Kleine Literatur und Geschichte: Isolation inmitten der Menschenmassen, hinein in die tiefe, innere Leere – eine Art Leere…
Martin ist ein sehr weicher und freundlicher Mensch. Leider geht er nicht derart frohen Mutes durch seine Welt, wie man es von einem jungen Mann erwarten würde. Er huscht eher nur noch von Ort, zu Ort. Unter Menschen zu gehen, das ist für ihn zu einer Qual geworden. Ob im Fahrstuhl, auf der Straße oder im Supermarkt, überall um ihn herum, da begegnen ihm fast ausnahmslos diese vielen grimmigen Gesichter.
Blicke vollgesogen mit Verachtung und Hass, sie flankieren seinen Weg. Sie streifen und schneiden ihn, wo immer er sich gerade befindet, sie ihn erreichen können. Interpretation von Worten und das Lesen zwischen den Zeilen des lauthals Gesagten, alles das, es hat eine fast unüberwindliche Mauer zwischen den Menschen und ihm errichtet. Immer wieder nur diese vielen Enttäuschungen und Vorurteile, sie lehrten ihn das Ausweichen, die Evitation. Ihre Kälte ist ihm unangenehm. Grotesk erscheinen ihm ihre Denkweisen.
Was ist nur mit den Menschen geschehen? Martin fragt sich das nahezu jeden Tag. So ungemein selten findet man ein echtes und aufrichtiges Lächeln in ihren Gesichtern. Gegenseitiger Respekt und Vertrauen scheinen fast vergessene Artefakte geworden zu sein. Dabei trägt jedes Lächeln das Potential in sich, einen ganzen Tag mit seinen vielen Augenblicken und Welten zu retten. Sind es womöglich massenhaft Sorgen, Probleme oder vielleicht die Nöte der Menschen, die ihnen das Lächeln restlos aus den Gesichtern radiert haben? Das mag wohl sein. Es sind sicher viele Sorgen und wiederkehrende Provokationen, die sie permanent stark belasten. Unser individuelles Engagement für die zahllosen Themen dieser Welt, es hat sich selbst und uns verändert. Im Gegensatz zu früher, da versorgen wir uns heute kontinuierlich mit allerlei Erregungsthemen. Noch nie zuvor fand man die Infrastruktur für alle die Sorgen, Probleme und die vielen Nöte dieser Welt optimierter und effektiver aufgestellt. Nie vorher war sie organisierter, als in unserer heutigen Zeit. Nahezu überall hängen wir uns emotional bereitwillig und jederzeit motiviert in und an Themen, von denen wir früher nicht einmal auch nur etwas geahnt haben. Die Medienvielfalt mit ihren amöboiden und aufgeweichten Grenzen, sie hat unsere privaten Bereiche und unseren Geist fast vollständig erobert. Sie versorgt uns kontinuierlich mit neuen Aufregern, Provokationen und Erregungsthemen. Wer hat bei diesem lauten Zirkus noch etwas Zeit für seine nahe Umwelt oder für das Leben auf seinem Kiez?
Martin versteht seine Welt nicht mehr. Die Menschen leben nicht mehr in seiner Nachbarschaft. Diese Nachbarschaft, sie ist vielmehr nur noch eine Ansammlung kalter Orte voller Erinnerungen an die Existenz ihrer Bewohner. Diese sind nur noch. Sie existieren lediglich. Als glotzende Fleischgebilde erscheinen sie ihm, die mit gesenktem Kopf den ganzen Tag auf ihre Smartphones starren. Ihre Stimmen verkommen zu einer Ansammlung wirrer Laute und verstörendem Singsang. Mit blinder Naht versehene und achtarm aneinander geklöppelte Buchstabengruppen werden in der Hoffnung gesendet, beim Empfänger einen guten Eindruck zu hinterlassen. Selten nur findet man noch Gefühl und Herz in ihren Zwischenräumen, die sich nun mit Stille füllen. Dabei ist Stille an sich, voller Liebkosung und Botschaft. Doch ist sie auch ein früher Indikator für Leere. Wie in einem trojanischen Pferd versteckt, so liefern wir an unsere Mitmenschen Massen an Leere aus. Doch Leere schent für die Seele des Menschen ein Speichergift, das nur schwer abgebaut werden kann. Es neigt offenbar dazu, menschliche Herzen zu ersticken und den Geist zu lähmen. Vielleicht ist das die Ursache für die vielen grimmigen Gesichter? Geist und Herz im Überlebenskampf, Verachtung und Hass in ihren Augen, sie mögen Ausdruck der Hilflosigkeit und des okkulten Schmerzes sein, den ihre sterbende, allmählich erstickende Seele aussendet. Was bleibt, das ist eisige Kälte und Leere.
Autor: © Alexander Rossa 2024
Links zum Thema Isolation und Leere
Wikipedia: Soziale Isolation