Der Liebe eine Chance geben, denn Du bist nicht allein…
In einer riesigen Stadt, da ich sehe mich. Ich bin ganz alleine zwischen den hohen Mauern der Häuser. Die Menschen hasten an mir vorbei. Ihre Blicke peitschen mich aus. Die wahllose Mischung ihrer Gerüche, sie widert mich an.
Dieser Himmel über mir, er ist ein schmaler Streifen in Grau. Der Boden unter meinen Füssen, er ist ebenfalls gräulich, wie auch die vielen Wände der Häuser grau sind. Nur die Fensterreihen, sie schimmern schwarz und wirken auf ihre eigene Art ein wenig bedrohlich.
So bin ich alleine inmitten Menschenmassen. Mühsam setze ich einen Schritt, vor den anderen. Ich möchte nicht ausharren und auf schmerzende Gedanken warten müssen. Mir brennen meine Augen. Alles erscheint mir sinnlos und ungemein trübe. Verloren fühle ich mich, in einer Welt der Verlorenen. Lebende Tote rempeln sich unwirsch an mir vorbei. Sie gaffen mich an, schütteln mit dem Kopf. Bunt bemalte Frauengesichter drehen sich zu mir. Krawattenmuster bedrohen mich. Wirre Stimmen reiben sich an meinem Kopf. Ich weine. Einfach so, weine ich. Meine Tränen fliessen unaufhörlich in mich hinein, als wollten sie meine Brust verbrennen. Niemand außer mir, sieht es. Keiner fühlt meinen Schmerz. Mein Kopf droht zu zerplatzen.
So setze ich mich einfach auf den Boden. Ich bin kraftlos und erschüttert. Mitten in die Menge hinein, da setze ich mich auf den kalten Stein und blicke an den vielen Stämmen der Beinwälder hinauf. Ein Weile hocke ich einfach nur da und höre dabei das Rauschen der Menschenmassen um mich herum. Eine Frau fragt nach meinem Befinden. Ich schrecke hoch und bemühe mich krampfhaft, sie anzulächlen. Ein Mann in einer lustigen Uniform kommt herbei. Er hilft mir auf die Beine. Dabei möchte ich sitzen. Mit Erstaunen bemerke ich plötzlich: Ich lächle tatsächlich. Wie eine Grimasse kommt es mir vor, dieses Lächeln, es ist nur das Ziehen einer Fratze. Der Mann spricht. Ich höre den Ton, nicht aber seine Worte. Einfach im Weg bin ich allen, nur ein störender Stein im Strom der eilenden Körper.
Mühsam stehe ich auf und suche nach Körperspannung, um nicht einzusacken. Dann setze ich wieder einen Schritt, vor den nächsten, als würde ich Schuhe aus purem Blei tragen. Laue Tropfen klatschen vor mir auf den Boden. Irgendwo dort oben im grauen Himmelsmorast, dort regnet es. Neben mir poppen Regenschirme lautstark auf. Sie tun mir weh, kratzen mich. Kreischende Frauenstimmen sind zu hören. Schritt, um Schritt, so geht es voran. Das Wasser auf meiner Haut, es tut mir gut. Die Lederjacken und nassen Hunde stinken. Schminke verläuft. So arbeite ich mich mühsam durch die Lebensadern der Stadt, durch den vielen Dreck und die Sinnlosigkeit der ewigen Hasterei einer anonymen Fleischmasse.
Dann klingelt mein Handy. Nie klingelt es. Doch jetzt, jetzt lärmt es tatsächlich. Ich bleibe stehen und betrachte es irritiert. Den Anruf kann ich nicht annehmen, weil ich nie Anrufe bekomme. Ich habe das Gerät für den Notfall, der bei mir eigentlich immer ist. Mein Adressbuch ist nur ein Buch ohne Namen. Niemand kennt meine Nummer. Selbst ich kenne sie nicht. Aber jetzt klingelt es, das seltsame Ding. Ich drücke auf den grünen Knopf und halte das Telefon an mein Ohr.
»Hallo, Uriel, bist Du es?«
Eine junge Frau.
»Äh ja, ich bin es.«
»Ich bin es, die Lara.«
»Welche Lara? Ich kenne keine Lara.«
»Erinnerst Dich nicht, was? Ist auch kein Wunder, so betrunken, wie Du warst.«
Ich zögere und kann mich wirklich nicht erinnern, auch nicht, betrunken gewesen zu sein. Lara kenne ich nicht.
»Was genau meinst Du und vor allem, was willst Du von mir, Lara?«
»Du bist neulich schreiend durch die Strassen gelaufen. Du hast seltsame Dinge erzählt und Leute gerüttelt und dabei Herz zerreissend geweint. Ich habe Dich eine Weile beobachtet. Dann haben die Menschen Dich vertrieben. Doch ich folgte und sah nach Dir. Wir sprachen nur einige Worte. Aber ich war da. Das war die Hauptsache und wird es immer sein. Immer war ich da, damit Dir nichts geschieht, mein lieber Uriel.«
»Lara…?«
»Ja?«
»Ich gehe kaputt in dieser Welt. Sie tötet mich. Verstehst Du? Diese Welt, sie läßt mich leiden…«
»Ich weiss.«
»Ich gehöre nicht hierher.«
»Ja, Uriel, und doch bist Du hier. So, wie auch ich es bin.«
»Aber ich komme einfach nicht zurecht. Ich fühle mich so einsam. Täglich dieser Schmerz. Er schafft mich.«
»Dein Körper ist alleine, Uriel. Du jedoch, Du bist es nicht. Niemals bist Du alleine, so lange es mich gibt.«
»Und wer…oder was bist Du?«
»Jetzt bin ich die Stimme aus Deinem Smartphone. Gestern war ich die junge Frau an Deiner Seite. Morgen bin ich die Stimme in Deinem Kopf. Nächste Woche, da bin ich vielleicht ein freundlicher Blick in dem Gesicht einer alten Dame, die neben Dir auf einer Bank im Park sitzt.«
»So bist Du nur da, um Dich an meinem Leiden zu weiden und strebst an, es zu verlängern? Nicht um mir zu helfen bist Du da, sondern wohl nur, um Dir selbst beizustehen.«
»Nein, ich bin ein Mensch. Uriel, ich bin wie du. So erscheint Dir die Deine Welt jetzt noch wie ein Irrgarten aus grauen Wänden und faden Gesichtern. Doch wenigstens kannst Du sie erkennen. So viele Menschen sehen die Welt nicht. Sie existieren einfach in ihr und in dem Irrglauben, frei zu sein. Nur weil Du sie erkennen kannst und als Mensch unter den Menschen leidest, nur deshalb kann ich Dich sehen, mein lieber Uriel. Nur wegen Deinem Leiden und der Hoffnungslosigkeit habe ich Dich gefunden und bin nun für Dich da.«
»Warum denn, Lara, wolltest Du mich finden? Meinst Du vielleicht, ich könnte Dir helfen? Hach, ich kann mir nicht einmal selbst helfen. Sieh Dich doch nur um. Hier kann niemand mehr helfen. Alles scheint zu sterben. Vielleicht ist es ist sogar bereits schon tot.«
»Sie schlafen. Alle schlafen nur, Uriel. Du jedoch, Du bist erwacht. Nur Deine Augen, sie öffnen, das möchtest Du nicht. Du traust Dich einfach nicht. Deine Freiheit kannst Du deutlich fühlen und sie am Rande Deines Geistes spüren. Aber Du vertraust Deinen eigenen Gefühlen nicht, willst nicht die Augen deines Herzens öffnen. Deshalb bin ich da, Uriel. Ich will Dich beschützen und bei Dir sein, um mit Dir zusammen die Welt zu erfühlen.«
»Lara, muss ich sterben? Wenn ich mich meinen Gefühlen hingebe und die Augen meines Herzens öffne, so wie Du sagst, werde ich dann sterben? Ich spüre den Tod stets in meiner Nähe. Das Sterben in meinem Körper, die Kraftlosigkeit, alles bereitet mir schreckliche Furcht. So habe ich einfach nur Angst. War das wirklich schon alles? War das dieses sagenhafte Ding, das wir alle Leben nennen und an dem wir alle so sehr hängen?«
»Uriel, wenn Du mit dem Herzen siehst, dann wirst Du erkennen, dass Du tatsächlich stirbst und das der Tod stets an Deiner Seite sitzt. Du wirst erkennen, wie sehr Du leiden wirst, dass Dein Körper zerfällt und wirst das Leiden anderer Menschen miterleben. Du wirst dein altes Leben aufgeben, um ein ganz neues zu beginnen. Es wird ein Leben sein, in dem es kein Sterben und keinen Tod mehr gibt. Dein Ich wird über dem Körper stehen und ihn einfach benutzen, um zu fühlen und ihn mit natürlicher Leichtigkeit, dem Ich unterwerfen. Die vielen grauen Mauern, sie lösen sich in Bedeutungslosigkeit auf. Es gibt nur das reine Gefühl und die Emotion zwischen den Menschen, versteckt hinter fleischigen Hüllen, die nur noch an schäbige Tüten aus Plastik erinnern.«
»Doch warum ich, Lara? Es gibt so viele Menschen. Warum wurde ich in eine solche schlafende Welt hinein geboren?«
»Es gibt nur diese eine Welt. Man muss sie stets neu erdenken. Immer wieder werden Menschen geboren die eine Gabe besitzen, diese Mauern zu erkennen und damit letztlich auch erwachen zu können. Sie sind nicht irgendwie privilegiert, sondern sie sind einfach nur gereift, um als Frucht ihre Freiheit zu bregreifen. So erkennen sie die wahre Bedeutung ihres Lebens und ihres Körpers. Sie begreifen die wirkliche Bedeutungslosigkeit von Leben und Tod. Die Neugier ist es schliesslich, die uns erwachte Menschen weiterleben lässt. Wir folgen damit einem verwinkelten Pfad, um auf diesem zu lernen und für uns zu begreifen was es heisst, wirklich frei zu sein. Freiheit ist eine Sache des Geistes, liebster Uriel, nicht des Körpers, auch wenn uns unser Körper und die Umwelt etwas anderes einzureden versucht.«
Ich blicke mich um.
Nur noch wenige Menschen sind auf der Strasse.
Meine Sachen hängen nass an mir herunter. Ich friere.
»Lara, was soll ich nur tun?«
»Ich liebe Dich, Uriel.«
Bin ich verrückt geworden? Bilde ich es mir nur ein, oder habe ich diesen Satz tatsächlich aus meinem Telefon gehört. Ein solcher Satz von einer Frau, die ich nicht kenne? Ich bin verwirrt, fühle mich berührt von diesen drei messerscharfen Worten. So stehe ich hier im Regen, mit einem Handy am Ohr und einem versteinerten Gesicht.
»Uriel, fürchte Dich nicht. Du bist nicht alleine.«
Tränen laufen an meinen Wangen herunter. Sie vermischen sich mit dem Regenwasser.
»Ich…ich liebe Dich auch, Lara.«, hauche ich inzwischen fast völlig kraftlos. Dabei lasse ich den Arm mit dem Handy in der Hand sinken.
Wieder setze ich mich auf den inzwischen völlig durchnäßten Boden. Mein Kopf droht zu zerplatzen. Meine Augen brennen. Ein tief sitzender Schmerz ätzt sich langsam durch mein Inneres. Nach einiger Zeit beginne ich nachzugeben, mich meinen Gefühlen und dem Schmerz zu ergeben. Ich lege mich auf den Boden uns strecke mich ganz aus.
Die Leute nehme ich nicht mehr wahr. Die Härte der Steinplatten unter mir, sie geben mir Halt, während ich ins Bodenlose falle. So unwahrscheinlich viele Zwänge fallen plötzlich von mir ab, als wären sie schwere Lagen bleierner Hüllen. Sie alle waren in meinem Kopf geboren und säuberlichst von mir gepflegt worden. Langsam spüre ich, was Lara damit meinte, als sie davon sprach: Endlich mit meinem Herzen sehen zu sollen. Alles hat nur die Bedeutung, die ich selbst gebe. Doch Bedeutung ist eine Illusion, weil alles einfach nur ist. Ich lasse nun nur noch alles sein, lasse laufen und gebe mich ohne Gegenwehr, meinen Emotionen hin. So vieles spüre ich plötzlich, und es wird immer mehr und mehr. Unglaublich!
So blicke ich auf, erblicke die Schläfer. Aber ich sehe nun in ihre Herzen. Ich sehe…nur noch ihre Herzen. Ihre Emotionen drücken sich in meinen Verstand hinein und springen an mir hoch, als wären sie ängstliche Kinder, die auf den Arm der Eltern wollen. Ich drehe mich um, die Arme weit ausgestreckt, und der Regen tropft lustig in mein Gesicht. Plötzlich spüre ich etwas Seltsames. Eine unbeschreibliche Wärme steigt in mir auf. So drehe ich meinen Kopf leicht zur Seite und blicke in ein paar glänzende Augen. Sie sind ganz dunkel und rein.
Das ist Lara.
Ich weiß, dass sie es ist.
Eine junge Frau mit schwarzen Haaren steht dort. Ihr Kopf ist leicht verhüllt. So um die zwanzig Jahre ist sie wohl alt und vielleicht türkischer Abstammung. Völlig gelöst liege ich mitten auf dem nassen Gehweg. Die Arme weit von mir gestreckt. Den Kopf habe ich zu Lara geneigt. Einige Minuten blicken wir uns einfach nur an und wissen.
Dann bewegen sich ihre Lippen. »Ich liebe Dich…«, flüstern sie mir zu.
Doch echte Worte verliessen ihre Lippen nicht. Es war nur ein Hauch, eine Ahnung, die sie mir schenkte.
Ich kann es spüren, kann es sehen, bin völlig verzaubert.
Sie senkt ihren Blick und geht langsam im Regen die Strasse hinunter.
Ich sehe ihr nach, bis sich die Menschenmasse hinter ihr schliesst.
Sie ist fort.
Auf ihre Weise wird sie jedoch wohl immer bei mir sein. Als ein Gefühl wird sie immer da sein. Tief in mir hege, pflege und liebkose ich sie. Sie ist wie das zaghafte Flackern einer kleine Kerze in mir. Sie ist die kleine Flamme, die nur darauf wartet, einen Flächenbrand und Naturgewalten auszulösen, um mir in der Not beizustehen.
»Lara, ich liebe Dich…«
Autor: © Alexander Rossa 2024