Das Finsterloch

Das Finsterloch

Niemand sollte sein eigenes Kind zu Grabe tragen müssen…

Es ist ein sehr dunkler und unendlich grau erscheinender Tag. Ich stehe hier an diesem finsteren Loch. Die Erde ist ganz feucht und dunkel. In der Nacht hat es viel geregnet. So stehe ich nun hier. Ich blicke in das feuchte Erdreich hinunter. Ich fühle nichts, denke nichts, bin wie betäubt. Meine Frau habe ich im Arm. Sie blickt ebenso in dieses Loch so, wie ich selbst. Auch sie scheint betäubt, ganz kraftlos und leer zu sein. So stehen wir beide nun hier alleine an diesem Erdloch.

Die frisch ausgehobene Erde, sie hat einen seltsamen Geruch. Ein weißer Stein schimmert auf dem Erdhaufen. Er ist seltsam hell. Der Stein glänzt naß vom kalten Regen. Ich habe Angst. Helfen soll ich, obwohl ich es nicht möchte. Den kleinen Sarg hinab, in das Erdloch lassen. Es ist alles so ganz ohne Sinn und erscheint mir völlig falsch. Ich nehme meine Frau ganz fest in den Arm.

Ein Auto fährt vor, ganz weit oben auf dem Hügel. Es steigt ein Mann aus. Er trägt einen schwarzen Anzug, der ihm viel zu klein ist. Aus dem Wagen zieht er eine weiße Kiste. Betroffen blicke ich auf den Boden. Meine Frau beginnt zu weinen. Ich höre ihr Schniefen und spüre ihr Zittern. Ganz leise und verletzt ist sie. Doch ich kann sie deutlich hören. Schmerzhaftes Krampfen spüre ich in meiner Brust. Das Atmen wird zur Qual. Es ist schrecklich.

Der Mann kommt langsam den Berg hinunter. Die kleine Kiste trägt er ganz vorsichtig. Etwas Zerbrechliches liegt darin. Jeder Schritt bringt pochenden Schmerz. Dann steht er neben uns, blickt mich an. Ich nicke ihm nur schnell zu, bin ganz unsicher. Niemand hat mir gesagt, was ich tun soll. Was macht ein Vater in dieser Situation? Der Mann legt die Kiste neben das dunkle Loch. Zwei breite Riemen liegen schlaff darunter. Er zupft alles sorgfältig zurecht, ist dabei nahezu pedantisch. Ich finde das gesamte Szenario regelrecht obszön. Dann blickt er mich erneut fragend an, wirkt auch etwas nervös und unsicher. Der schreckliche Augenblick, er ist nun gekommen.

Jener Augenblick ist nun da, den nie ein Vater erleben sollte. Ich trete vor und nehme einen der Riemen auf. Den anderen Riemen nimmt der Mann in Schwarz. Er nickt, und wir beide heben den kleinen Sarg. Langsam lassen wir ihn in das Loch hinab. Als der Sarg den Boden erreicht, trete ich zurück. Ich nehme meine Frau wieder in den Arm. Sie weint. In mir scheint alles betäubt.

Der Mann stellt sich neben uns und schweigt. Er nimmt an dem Augenblick Anteil, blickt nach unten. Alle schauen wir nun in das Loch, auf diesen weißen Sarg. Feiner Nebel legt seine Tröpfchen kalt auf mein Gesicht. Nach einer Weile blickt der Mann hoch, uns dann kurz an und geht. Seine Augen sind ausdruckslos. Langsam schreitet er den Berg hinauf. Er dreht sich nicht um.

Wir sind alleine, meine Frau, mein totes Kind und ich. So stehen wir an dieser Grube, gehören nicht an diesen Ort. Worin steckt er hier, der Sinn dieser ganzen Sache? 40 Wochen reift ein Kind heran, nur um dann zu sterben? Liebe der Eltern, sie wächst heran, nur um in der Trauer zu verwelken? Ein Kind entsteht, nur um Leid zu bringen? Es stirbt ohne erkennbaren Sinn, einfach so. Fragen reiben sich an meinem Verstand.

Ich spüre fremde Blicke auf mir. Dort steht ein Mann. Es ist der Pfarrer vom Dorf. Was will er hier? Er soll gehen. Jetzt ist es zu spät, und er hat versagt. Wo war er, als man ihn brauchte? Alles wohl eine Prüfung Gottes, so meinte er später zu uns. Eine routinierte Anteilnahme? Es waren Worte aus dem Eisschrank und keine der Seelsorge.

Gott muss pervers sein, sollte es ihn geben. Er läßt ein kleines Kind wachsen, um es dann zu töten. Liebe läßt er keimen, nur um besseres Leiden zu ermöglichen. Der Pfarrer dreht sich weg. Er geht, ohne sich umzublicken. Gut ist es, dass er geht. Sein Gott hat uns verlassen, warum nicht nun auch sein selbst ernannter Diener?

Über eine Stunde stehen wir alleine. Alleine an diesem Erdloch. Wir nehmen Abschied von unserem Kind. Ich hasse dieses Verscharren in der Erde. Widerlich und grob ist es. Völlig durchnässt sind wir und spüren es nicht einmal. Die Welt um uns herum, sie ist schwarz geworden. Alles in mir ist taub, verschwommen und nicht mehr zu fühlen. Es ist ein eisiger Abschied von Glaube, Liebe und Hoffnung.

Ein Teil unserer Zukunft ist uns brutal entrissen worden. Ein kleines Menschenkind ist gestorben. Nur gefühlt habe wir unser Kind. Niemals haben wir sein Lachen gesehen. Seine Kinderaugen, sie sind seinen Eltern fremd. Nur das Gefühl der Schuld wurde in uns geboren. Es ist fett und rosig. Ein wahrhaft göttlicher Ersatz für ein Kind. Gierig frißt es sich in uns und nährt sich von Tränen. Es wird uns ein Leben lang begleiten. Immer wird es bei uns sein, dieses fette, rosige Monster.

Ich weiss nicht mehr, was ich denken soll. So stehe ich noch eine Weile an diesem Loch. Meine Frau habe ich in meinem Arm. Alles erscheint mir so sehr ohne jeglichen Sinn. Die Zeit verrinnt, und wir gehen irgendwann. Langsam lassen wir jetzt auch dieses Loch hinter uns. Wir raffen uns auf, schleppen uns die Treppen hinauf. Wir lassen einen Teil unserer Zukunft und unserer Träume zurück. Wir lassen den Körper unseres Kindes zurück…

© Alexander Rossa 2024

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