Sie liegt in meinen Armen. Ihre Augen sind geschlossen, und doch schläft sie nicht. Die Worte aus meinem Mund, sie bilden ein kleines Kindergedicht. Doch sie hört nur auf den Klang meiner Stimme, das weiß ich genau, und sie spürt die Wärme zwischen uns. Sie geniesst meine Nähe. Für einen kurzen Augenblick sind sie vergessen, die Angst, die Tränen und die Trauer des dunklen Tages. Vergessen sind die Bilder von sterbenden Menschen auf der Strasse, von blutenden Körpern und das laute Krachen der Schüsse.
Ja, so ist es. Jeden Tag hastet sie diesem einen, so sehr klein gewordenen Augenblick entgegen, der für sie zum einzigen Licht zwischen dem dunklen Tag und der schwarzen Nacht geworden ist.
Ich streichle ihr über den Kopf und küsse sie auf ihre kleine Stirn. Dann öffnet sie ihre Augen. Zwei runde Kinderaugen schenken mir das unbeschreibliche Gefühl endlosen Vertrauens. Nun lege ich ihr das kleine Strickschaf in den Arm und gebe auch ihm einen Kuss auf seine wattene Stirn. Zufrieden nimmt sie es nun noch fester in ihre Arme und schliesst dann wieder ihre Augen.
Ich betrachte sie noch eine Weile. Ihr Gesicht ist so friedlich. Ich denke mit Schrecken daran, sie in wenigen Stunden wieder aufwecken zu müssen. Es wird wieder dieses Wecken sein, ein Erwachen in eine nahezu vollkommene Dunkelheit. Wieder werde ich sie in ein Schaffenswerk des Menschen und eine Welt des Leidens entlassen müssen. Wieder werde ich sie gehen lassen, ohne die Spur der Gewissheit, dass für sie ein Augenblick der Helligkeit und des Friedens kommen wird, ein Augenblick, dem sie mit ihren kindlichen Beinen entgegen hasten kann.
Ich stehe auf und verlasse ihr Zimmer. Auf den kleinen Balkon zieht es mich. Dort setze ich mich auf den Boden, die Beine ganz nahe an den Körper gewinkelt. Ich betrachte den klaren Nachthimmel, der seine herrlich glitzernde Sternenpracht über mich zu ergiessen droht.
In der Ferne höre ich krachende Schüsse, dann laute Schreie. Dennoch geniesse ich das Funkeln der vielen Sterne. Inzwischen gibt es kaum einen Augenblick in meinem Leben, in dem ich keine Schüsse und Schreie von Menschen hören kann.
Doch dann…! Ein lautes Krachen lässt mich aufschrecken.
Ich höre das Knirschen von brechendem Holz und springe auf. In die Wohnung stürzen Männer, schwer bewaffnete Soldaten. Sie dringen rücksichtslos in jeden Raum vor. Zwei von ihnen, sie stürmen mir sogleich entgegen und drücken mich brutal gegen die Wand, so dass ich kaum noch atmen kann. Mein Gesicht, es zersplittert das Glas eines Bildes. Ich spüre die kalte Mündung einer Waffe in meinem Nacken. Immer wieder hört man lautes Krachen. Glas zerspringt. Holz zerbricht. Dann der laute Aufschrei eines Kindes.
Ich versuche mich zu befreien. Verzweifelt bin ich. Ein Soldat schlägt mein Gesicht hart in den Scherbenrahmen. Blut tropft von meinem Kinn. Mit Gewalt werde ich durch die Wohnung gestossen. Ich sehe mein Kind. Einer der Soldaten hat es fest im Nacken gegriffen. Er steht dabei mit einem seiner schweren Stiefel auf dem weichen Kopf des kleinen Strickschafes. Seine Augen wirken kalt und ungerührt. Mein Mädchen, es weint. Sie hat Angst. Tränen laufen ihr über die Wange. Ich kann es genau erkennen.
Die Soldaten zerren mich durch den Hausflur. Sie schlagen mir mehrfach die Gewehrkolben in die Rippen. Ich stöhne vor Schmerzen. Meter, um Meter, stolpere ich weiter, bis auf die Strasse vor dem Haus. Dann stürze ich. Meinen ganzen Arm reisse ich mir dabei auf. Doch ich beisse die Zähne zusammen. Die Schmerzen sind kaum auszuhalten.
Sie werfen mich auf die Ladefläche eines kleinen Lastwagens. Auf ihm kauern zwischen den grimmig blickende Soldaten zwei weitere Männer. Sie wagen es nicht, ihren Blick zu heben. Dann sehe ich meine Tochter. Sie hat sich los gerissen und rennt jetzt schreiend auf den Lastwagen zu. Doch der Wagen fährt bereits an. Sie streckt ihre Arme aus und schreit immer wieder verzweifelt. Einer der Soldaten auf der Strasse, er brüllt sie harsch an. Doch sie reagiert nicht. Sie versucht dem Lastwagen auf ihren kleinen Kinderbeinen verzweifelt zu folgen.
»Bleibe, bleibe bei ihnen!«, rufe ich ihr zu. Etwas Blut rinnt mir dabei aus dem Mundwinkel. Der Schweiss brennt mir im Gesicht. Doch sie hört es einfach nicht. Das Mädchen rennt verzweifelt hinter dem Lastwagen her. Der Abstand wird immer größer.
Dann höre ich das laute Krachen eines Schusses.
Ich springe sofort auf, reisse mich los. Meine Tochter bricht in sich zusammen. Das Mädchen überschlägt sich auf dem steinigen Boden. Ich schreie laut auf. Mit nahezu übermenschlicher Kraft springe ich von dieser schäbigen Ladefläche auf die Strasse und schlage mir dabei beide Knie auf. Doch der Schmerz, er ist für mich ohne Bedeutung. Verbissen kämpfe ich mich auf das kleine Bündel Mensch zu, das dort auf der Strasse liegt.
Ich spüre deutlich, wie mir das warme Blut am Bein herunter läuft. Nur noch wenige Meter trennen mich noch von ihr. Dann höre ich erneut ein lautes Krachen. Im gleichen Augenblick werde ich mit unbeschreiblich starker Wucht auf den Boden geworfen. Mein Körper fühlt sich taub an. Ich kann kaum noch atmen. Doch mit meinen beiden Händen ziehe ich mich verbissen immer weiter über den Boden nach vorne. Meine Fingernägel zerreissen auf dem harten Schotter. Ich höre Schreie. Dann höre ich wieder ein Krachen. Ein dumpfer Schlag in meiner Schulter, er raubt mir fast die Sinne. Verzweifelt krampfen sich meine Finger um die Steine und in den harten Boden. Sie ziehen mich ganz langsam immer weiter in die Richtung meines Kindes. Fast schon kann ich es erreichen, es berühren. Meine Fingerspitzen, sie spüren schon feinen Haare. Ich kann kaum noch etwas erkennen. Ein bohrender Schmerz frisst sich allmählich in meinen Kopf. Doch mit letzter Kraft kann ich mich noch einmal aufbäumen. Dann falle ich schliesslich kraftlos auf mein totes Kind.
Mir schwinden allmählich die Sinne. Meinen Körper spüre ich nicht mehr. Ich forme meine Lippen zu einem Kuss und schliesse kraftlos die Augen. Ihre Haut ist noch ganz warm. Ihre Augen sind geschlossen, so wie am frühen Abend zuvor. Einen letzten Kuss gebe ich meiner Tochter. In ihn lege ich die ganze Wärme meines Körpers und die gesamte Liebe in meinem Herzen, bevor es einfach aufhört zu schlagen.
© Alexander Rossa 2024