Kostenlos das Multiversum Fantasy Ebook lesen: Im ersten Kapitel des phantastischen Abenteuers gerät der alte Flaschensammler Jan in eine Gefahr, die nicht von dieser Welt zu sein scheint. Doch er ist nicht alleine. Er erhält ganz unvermutet Hilfe und Teile seine Erinnerung zurück. Eine ganz bizarre Geschichte bekommt er zu hören, die er einfach nicht glauben mag. Doch ihm werden deutliche Beweise dargelegt.
Es war ein kühler Morgen im frühen Herbst.
Kaum ein Mensch war auf der Straße.
Alles war noch still.
Nur an dem Flaschencontainer an der großen Kreuzung, dort bewegte sich etwas.
Es war Jan.
Er suchte nach leeren Pfandflaschen.
Jan war ein Mann in den Fünfzigern. Zudem war er ein Mann, der stets Geld benötigte.
Jans Leben war leider keine große Erfolgsgeschichte.
Nach seiner Schule hatte er den Beruf eines Maurers gelernt.
Er war dann aber immer wieder arbeitslos geworden.
Jan hatte eben nie wirklich viel Glück gehabt, war einfach immer zu verträumt und dachte wohl auch einfach zu viel über das Leben nach.
Die Nachbarn hielten ihn für einen Traumtänzer.
Deshalb hatten ihn auch seine beiden Ehefrauen verlassen.
Einen Spinner und Schwätzer hatten sie ihn genannt.
Dann ließen sie ihn einfach sitzen.
Nun lebte Jan von der Fürsorge.
Da diese nicht einmal dazu ausreichte, ihm genügend Essen auf den Tisch zu bringen, suchte er eben jeden Morgen nach alten Pfandflaschen. Für so eine Flasche bekam er immer ein paar Cent.
Natürlich wühlte er nur ganz früh am Morgen nach Flaschen.
Es war ihm peinlich in den Abfällen der anderen Menschen herum zu stochern.
Doch wenn man hungrig war, dann war man zu einigem bereit, nur um an ein wenig mehr Essen zu gelangen.
Dieser Morgen, er war ein schlechter Morgen.
Jan hatte nur wenige Flaschen gefunden.
Er war deshalb ziemlich schlecht gelaunt.
Leise fluchte er immer wieder vor sich hin.
So richtig satt hatte er es, dieses Leben.
Oft hatte er schon darüber nachgedacht, diese Sache einfach zu beenden.
Für ihn war das eine befreiende Option. Für so einen nutzlosen Kerl gab es einfach keinen Platz auf dieser Welt und in dieser Gesellschaft.
Immer wieder und wieder redete er sich das ein und war inzwischen davon überzeugt.
Ein Auto fuhr heran.
Er konnte es kaum hören.
Eines dieser Elektroautos der Stadtreinigung näherte sich.
Jan nahm seine alte Plastiktüte, seinen kleinen, morschen Handkarren und ging rasch seines Weges. Er wollte nicht wieder mit dem Mann von der Stadtreinigung streiten.
Einige der Fahrer mochten ihn, andere eben nicht.
Nur weil er alte, schmutzige Flaschen suchte und einen grauen Bart trug meinten sie, er wäre ein schäbiger Stadtstreicher.
Dabei war er keineswegs ein Stadtstreicher.
Jan verbat sich das. Er hatte einen festen Wohnsitz.
Seine kleine Wohnung, sie war sein ganzer Stolz.
Zwei Zimmer im Tiefgeschoss eines alten Hauses bewohnte er.
Sie waren zwar nur ganz einfach eingerichtet, aber doch sehr gemütlich. Für seine Bedürfnisse war die Wohnung vollkommen ausreichend.
Im Winter war sie warm und trocken, im Sommer kühl und schattig.
Was wollte er mehr?
Er schlenderte mit seinem Handkarren zur Haltestelle der Straßenbahn.
An diesem schlechten Morgen wollte er für die drei Stationen die Bahn nehmen, um zu seiner Wohnung zu gelangen. Er war müde und nahm es in Kauf, dass ihn die Kontrolleure beim Schwarzfahren erwischen konnten.
Als er bei der Haltestelle ankam, wurde ihm sogleich unwohl.
Dort standen drei junge Männer.
Sie waren betrunken.
Nach einer durchzechten Nacht waren sie offenbar auf dem Heimweg.
Jan hatte in den letzten Jahren seine ganz eigenen Erfahrungen mit solchen Betrunkenen gemacht.
Er wollte jetzt doch lieber zu Fuß nach Hause gehen.
Allerdings musste er trotzdem an der Haltestelle vorbei.
Er lief so unauffällig, wie es ihm nur möglich war, an den drei Männern vorbei.
Er sah möglichst nicht in ihre Richtung und vermied den Blickkontakt.
Als er schon fast an der Haltestelle vorbei war, riss ihm die alte Plastiktüte.
Die Flaschen fielen laut klirrend auf den Steinboden.
Fluchend bückte sich Jan, um zumindest die großen Scherben wegzuräumen.
Im Hintergrund vernahm er, wie die Männer laut über ihn lachten und ihre Witze rissen. Unbeirrt nahm er die Scherben auf und wollte sie in den Mülleimer an der Haltestelle werfen. Jan war sehr wütend über sich selbst.
Immerhin war es sein Mittagessen gewesen, das er jetzt einfach in den Müll entsorgte. Kaum fielen die Scherben klirrend auf den Boden des Mülleimers, da spürte er, wie sich die drei Männer ihm näherten.
Er wandte sich vom Mülleimer ab und wollte nur rasch wieder zu seinem alten Handkarren. Doch da trat ihm schon einer der Männer gegen die Beine, so dass er hart zu Boden fiel. Schallendes Gelächter wühlte die Stille an diesem Morgen auf.
»Ich bitte euch, lasst mich doch in Frieden meines Weges gehen.«, bettelte Jan.
Doch schon schlug man ihm brutal ins Gesicht.
Ein furchtbarer Schmerz überflutete seinen ganzen Kopf.
Erneut ging er zu Boden.
Schon traf ihn ein kräftiger Tritt in die Magengrube und ließ ihn aufstöhnen.
Jan bekam keine Luft mehr. Blut rann ihm aus der Nase.
»Bitte…«, flehte Jan. Seine Stimme zitterte.
Doch schon wurde er erneut getreten.
Der harte Schuh traf ihn mitten in das Gesicht.
Jans Welt begann sich zu drehen.
Die Schmerzen waren furchtbar.
Doch dann, ganz plötzlich und unvermutet, verstummte das laute Gelächter.
Jan hörte, wie einer der Männer über die Straße pfiff.
Offenbar lief dort eine Frau, die den drei Angreifern gefiel.
»Süße, soll ich es dir einmal richtig besorgen?«, lallte einer der Männer mehr, als das er rief. Eine Antwort erhielt er nicht.
Jan lag auf dem Boden und rührte sich nicht.
Ihm war übel. Er lag in seinem Blut.
Dann hörte er eine weibliche Stimme.
»Warum lasst ihr den armen, alten Mann nicht in Ruhe? Was hat er euch denn nur getan?«, rief ihnen die Frau zu.
»Ach, der Alte, der ist doch nur ein blöder Penner. Um den ist es nicht schade, Schnecke.«
»Um euch ist es nicht schade. Abschaum seid ihr. Ihr solltet euch schämen, Wehrlose zu bedrohen.«
»Oh, das Schneckchen wird frech.«, scherzte einer der drei Männer und kicherte dabei völlig idiotisch.
Jan blickte vorsichtig etwas hoch und sah eine brünette Frau.
Sie war Anfang Zwanzig und stand den drei betrunkenen Männern inzwischen gegenüber. Langsam kreisten die Betrunkenen die Frau ein und fingerten ein wenig provozierend an ihr herum.
»Lasst sie doch in Ruhe. Mich könnt ihr tot prügeln. Aber sie lasst bitte gehen. Um mich ist es nicht schade. Ihr habt es doch selbst gesagt.«, rief Jan und hustete danach.
»Da ist er ja wieder, unser stinkender Penner.«, meinte einer der Männer.
Sein Kumpel ergänzte: »Wir hätten ihn gleich platt machen sollen. Jetzt labert der Typ uns die Taschen voll.«
Die Männer wandten sich wieder Jan zu.
Einer von ihnen wollte gerade zu einem neuen Tritt ausholen, als die junge Frau ihn von hinten hart in das Gesicht griff. Sie schleuderte ihn gekonnt zu Boden.
Die beiden anderen Männer waren über den Angriff der jungen Frau völlig überrascht.
Sie starrten sie einen Augenblick lang entgeistert an.
Doch dann holte einer von den beiden aus und wollte der Frau mit der Faust in das Gesicht schlagen.
Geschmeidig wich die Frau aus und trat dem Mann kraftvoll in die Eier.
Dann wirbelte sie gekonnt herum und brach mit zwei festen Griffen dem dritten Angreifer den Unterkiefer.
Jan konnte das Knacken deutlich hören.
Ihr erstes Opfer hatte sich inzwischen wieder erhoben und griff sie nun von hinten an.
Doch drehte sich die Frau derart geschickt, dass sie den Mann hart in seiner Kniekehle erwischte, worauf er laut schreiend zu Boden ging. Dort empfing er von der jungen Frau noch einen weiteren Schlag direkt unter sein Schulterblatt.
Danach blickte sie sich prüfend um.
Sie beobachtet wie der Mann, dem sie kurz zuvor in die Eier getreten hatte, auf allen Vieren zu der Sitzbank der Haltestelle kroch. Dabei wimmerte er immer wieder leise vor sich hin. Offenbar mit sich zufrieden bückte sich die junge Brünette zu Jan herunter und reichte ihm ihre Hand.
»Bist du soweit in Ordnung?«
»Wie man es nimmt.«, meinte Jan.
Er hatte den Geschmack von Blut in seinem Mund.
»Komm schon, ich helfe dir auf.«
Mühsam erhob sich Jan und sah sich in gebückter Haltung um. Alle Knochen taten ihm weh.
Die drei Männer waren völlig kampfunfähig.
Sie lagen stöhnend auf dem Boden.
»Ich bin Marsha.«, stellte sich die Frau vor.
»Angenehm, Jan. Diese Idioten…«
»Ja, das sind sie. Schlimm ist es in den letzten Jahren geworden. Der viele Alkohol, er ist für die Menschen einfach nicht gut.«
»Diese brutalen Typen, sie wachsen wie Pilze aus der Erde. Sie haben einfach vor nichts Respekt, nicht einmal vor sich selbst. Sonst würden sie sich nicht immer wieder die Birne mit dem Zeug benebeln.«
»Soll ich dich irgendwo hinbringen, Jan? Nach Hause vielleicht?«
Marsha stützte ihn ein wenig, als sie beide zu seinem Handkarren gingen.
»Das kann ich wirklich nicht annehmen. Aber wir müssen schnell weg von hier. Die Polizei wird sicher bald kommen. Da muss man viel erklären. Das ist nicht gut. Ich will nicht erklären. Niemandem sind Erklärungen von Nutzen.«
Marsha begleitete Jan zu seiner Wohnung, wofür er insgeheim sehr dankbar war.
Das hätte er jedoch niemals zugegeben und schon gar nicht, vor seiner jungen Hübschen, wie es Marsha war.
Jan öffnete ihr seine kleine Wohnung und stellte seinen Handkarren in die kleine Nische vor seiner Tür.
Als er ihr in die Wohnung folgte, stand sie etwas unbeholfen in dem kleinen und etwas unaufgeräumt erscheinenden Zimmer, das tatsächlich sein Wohnzimmer war.
»Marsha, nimm doch Platz. Ich kann dir nur einen Stuhl anbieten oder eben das Bett. Mehr habe ich nicht, wie du ja selbst auch sehen kannst.«
Marsha nahm auf dem alten Stuhl am Tisch Platz.
Jan ging zu dem kleinen Waschbecken und wusch sich das angetrocknete Blut aus dem Gesicht.
Während das Wasser lief, fragte er sie, ob sie vielleicht ein Glas Wasser aus dem Wasserhahn wollte. Marsha lehnte höflich ab und sah sich neugierig im Raum um.
»Es tut mir leid, aber ich bin arm. Ich kann dir nicht viel mehr anbieten, als eben das Wasser. Nicht einmal ein anständiges Mittagessen wird es heute geben, nachdem mir die Flaschen zerbrochen sind.«, erklärte Jan.
Er war verärgert und ließ sie das spüren.
In Gegenwart dieser hübschen Frau, da war ihm seine einfache Bleibe sehr peinlich.
Sie war für ihn ein Symbol seines Versagens.
Marsha winkte nur ab und lächelte ihn an.
»Och, da bin ich viel Schlimmeres von meinen Studentenfreunden gewohnt. Lass mal gut sein, Jan. Ich möchte auch nicht lange bleiben. Da ich sehe, dass mit dir soweit alles in Ordnung ist, möchte ich dich nicht weiter stören.«
»Das habe ich mir gedacht. Keine Frau hält es lange bei mir aus.«, meinte Jan und lachte dabei kühl.
»Nein, das ist es nicht. Es ist vielmehr so, dass ich schnell weg muss, weil ich noch einen anderen Termin habe, den ich einfach nicht verschieben kann.«
»Aha, ein Termin ist schuld, alles klar.«, meinte Jan zynisch.
»Ein Termin, Jan, so ist es, ob du es glaubst, oder nicht. Aber ich kann gerne morgen noch einmal bei dir vorbeischauen, wenn du willst. Wir sollten uns vielleicht über deine Situation hier ein wenig unterhalten. Ich hätte da vielleicht so eine Idee…«
Marsha stand auf und ging auf Jan zu, der sich gerade sein Gesicht mit einem alten Handtuch abtrocknete. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen und wartete auf seine Reaktion.
»Wenn du meinst, Marsha. Aber ich bin wahrscheinlich erst am Nachmittag wieder hier anzutreffen. Du weißt ja nun, die Flaschen…«, meinte Jan und nahm vorsichtig ihre zierliche Hand in seine.
Ihre Hand, sie war so weich und warm, die Nägel waren gepflegt und einfach wundervoll. Jetzt erst nahm er ihr feines Parfüm wahr. Sie blickte ihm freundlich in die Augen.
Plötzlich spürte er ein unerklärliches Vibrieren in seiner Hand. Er sah sie fragend an und war erstaunt.
Doch ihr Blick blieb unverändert freundlich und wich ihm nicht aus. Die Vibration erfasste bereits seine ganze Hand und strahlte bis in seinen Arm hinauf.
Inzwischen bekam Jan Angst.
Ihm wurde diese seltsame Sache unheimlich.
Er zog seine Hand zurück.
»Marsha, du musst nun gehen.«, meinte er knapp und wandte sich wieder dem kleinen Waschbecken zu. Sie sollte schließlich nicht bemerken, dass sie ihn irritiert hatte. »Ja, dann bis morgen, Jan.«
Er hörte dann, wie die Tür in das Schloss fiel und seufzte erleichtert.
Was war nur geschehen?
Wer war diese Frau, und wieso vertraute er ihr?
Er blickte ungläubig seine Hand an. Kopfschüttelnd setzte er sich auf das Bett und seufzte tief.
Ihm taten sämtliche Knochen weh.
Die drei Trottel von der Haltestelle, sie hatten ganze Arbeit geleistet.
Doch was war das eben für ein seltsames Vibrieren?
Es hatte sich fast so an gefühlt, als wäre eine Art Energie oder Strom durch ihre Hände, in die seinen, geflossen sein.
Jan konnte sich dieses Phänomen nicht erklären.
Er nahm sich aber vor, Marsha am kommenden Tag gleich zu fragen.
Doch vielleicht kam sie überhaupt nicht wieder.
Das war sogar wahrscheinlich.
Er holte tief Luft.
Müde ließ er sich zurück in das Bett fallen und schlief fast augenblicklich ein.
Als er erwachte, klopfte es an der Tür.
Inzwischen war es Nachmittag geworden.
Jan erkannte es daran, dass die Sonne bereits gelblich durch das winzige Fenster schien.
»Wer ist da?«, fragte er genervt.
»Ich habe hier eine Pizza für einen gewissen Jan.«, klang eine männliche Stimme von draußen.
»Ich habe keine Pizza bestellt.«
»Eine gewisse Marsha hatte das bestellt. Sie hatte auch schon gleich bei uns bezahlt. Sie meinte, ich soll ihnen das Essen einfach vorbeibringen.« Jan blickte auf und überlegte. Er war positiv überrascht.
»Ja, ich komme schon.«, meinte er dann ganz schnell. Seinen großen Hunger konnte er nicht ignorieren. Er ging an die Tür, öffnete sie und blickte auf die Wand gegenüber der Tür. Da war niemand.
»Hier unten.«
Jan senkte seinen Blick. Er blickte auf die Schirmmütze eines ungewöhnlich kleinen und südländisch wirkenden Mannes mit buschigen Augenbrauen. Er hielt einen großen, brauen Pizzakarton in seiner Hand.
»Wow, ist die groß.«, meinte Jan und nahm rasch die Pizza entgegen.
»Einen guten Appetit wünsche ich und einen schönen Tag noch.«, meinte der kleine Man, als er Jan die Pizza überreichte. Dann drehte er sich um und stieg die Treppe zur Straße hoch.
»Trinkgeld habe ich auch schon von der hübschen Signorina bekommen.«, rief er noch schnell die Treppe hinunter und verschwand aus Jans Blickfeld.
Jan wusste nicht, wie lange er schon keine Pizza mehr gegessen hatte.
Ohne lange zu zögern setzte er sich wieder auf das alte Bett und öffnete die warme Schachtel. Was er dort sah, das gefiel ihm sehr.
Es lag eine dampfende Pizza mit Salami, Schinken, Pilzen und viel Käse vor ihm. Sie wartete nur darauf, von ihm gegessen zu werden. Gierig nestelte er ein heißes Stück aus dem Rund der Pizza heraus und schob es sich in den Mund. Ein Traum, so dachte er sich und genoss jeden weiteren Bissen. Das er dabei laut schmatzte und das Öl über seine Lippen lief, das alles nahm er einfach nicht wahr. Für ihn zählte nur dieses wundervolle und warme Essen.
Als er das letzte Stück gegessen hatte, ließ er sich seufzend in sein Bett zurückfallen und schloss entspannt seine Augen. Endlich war er wieder einmal so richtig satt geworden. Insgeheim dankte er Marsha dafür und versuchte ein wenig abzuschalten.
Doch da, da war etwas, was ihn irgendwie störte. Es war eine Art leises Wispern oder Flüstern, das er sonst nicht hörte, wenn er in seinem Bett lag. Jan öffnete die Augen und sah konzentriert zur Zimmerdecke.
Ja, da war es wieder. Ganz deutlich konnte er es nun hören.
Jan setzte sich auf und blickte sich suchend in seiner Wohnung um.
Woher kam dieses Geräusch nur?
Dann bemerkte er eine Art Huschen in seinem Augenwinkel.
Erschreckt sprang er vom Bett auf.
Er war nicht alleine. Das war ihm nun klar.
Vorsichtig schritt er durch das Zimmer.
Da war es wieder!
Eine Art Schatten huschte an ihm vorbei.
Dann war wieder dieses leise Wispern zu hören.
Er war sich jetzt ganz sicher.
Jan hatte plötzlich Angst.
Sollte er vielleicht durch den Angriff der drei Männer am Morgen stärker verletzt worden sein, als er es den Anschein hatte?
Der Puls seines Herzens, er schlug ihm bis in den Hals hinauf. Instinktiv spürte er, dass hier etwas vor sich ging, das er nicht kannte. Da war etwas, was ihm noch nie begegnet war. Sein Körper warnte ihn unerwartet deutlich.
Er schwitzte, wollte fliehen.
Dort war es wieder.
Der flüsternde Schatten, er huschte durch den Raum und löste sich dann einfach in Luft auf. Jan nahm daraufhin vorsichtig seine Jacke. Er verließ, so schnell er es vermochte, die Wohnung. Der alte Flaschensammler verstand nicht, was dort vor sich ging und spürte mehr und mehr die Angst in sich.
Als er schließlich oben auf der Straße stand, da wusste er nicht, was nun geschehen sollte. Niemand würde ihm so einen irrsinnigen Mist glauben.
Vielleicht war er tatsächlich krank und brauchte einfach nur Hilfe.
Er beschloss, erst einmal eine Runde umher zu gehen, einfach nur weg von der Wohnung. Er wollte ein wenig durch die Straßen ziehen und nachdenken.
Jan lief vorbei an der kleinen Trinkhalle, bis zum Marktplatz. Dort kannte er eine gemütliche Parkbank, auf der er sitzen wollte. Bei ihr angekommen, setzte er sich und bemerkte, dass seine Hände unangenehm zitterten. Offenbar hatte ihn der Stress des Tages ziemlich mitgenommen.
Er war nicht mehr der Jüngste. Sein Leben hatte auch schon deutliche Spuren bei seiner Gesundheit hinterlassen. Die Blessuren vom Angriff, sie schmerzten auch noch.
So saß Jan vor dem kleinen Springbrunnen und war auf eine seltsame Art und Weise verzweifelt. Ein wenig tat er sich auch selbst leid. Sogar das kleine Glück einer heißen Pizza wurde ihm heute versaut. Diese flüsternden Schatten, sie waren schrecklich und offenbar nicht zu kontrollieren.
Während Jan über das Geschehene nachdachte, bemerkte er etwas Seltsames.
Obwohl es fast vollkommen windstill war, schien sich der plätschernde Strahl des Brunnenwassers ein wenig in seine Richtung zu beugen.
Das sah schon etwas seltsam aus und war doch sehr ungewöhnlich.
Bevor er an diese Parkbank gekommen war, zeigte der Strahl senkrecht zum Himmel.
Da war Jan sich sicher.
»Mama, schau mal! Was ist denn mit dem Brunnen los?«, hörte er eine Kinderstimme rufen. Ein kleines Mädchen kam mit seiner Mutter über den weiten Marktplatz gelaufen und zeigte ganz aufgeregt auf den Brunnen. Als beide am Wasser angekommen waren, lief die Kleine um den Brunnen herum und staunte.
»Wissen Sie, warum der Brunnen schon wieder kaputt ist?«, fragte die Mutter Jan mit einer meckernden, lauten Stimme. Jan zuckte nur mit seinen Schulter.
»So etwas passiert nur, weil ihr Penner immer eure leeren Bierflaschen in den Brunnen werft. Wir, die arbeitende Bevölkerung, wir dürfen dann ohne Murren die Rechnungen für die Reparatur bezahlen. Ein echte Schande ist das.«, mutmaßte die junge Mutter empört und versuchte ihre ziemlich aufgedrehte Tochter an die Hand zu nehmen. Sie wollte weiter.
Jan brummte nur etwas Unverständliches in seinen Bart, weil er keinen neuen Ärger bekommen wollte. Hier auf dem Marktplatz zu sitzen, das war auf jeden Fall besser, als in der Wohnung bei den huschenden Schatten zu bleiben. Von denen hatte Jan wirklich genug.
Wieder einmal war er der Trottel.
So fühlte er sich jedenfalls.
Der ganze Tag war schlecht für ihn gelaufen.
Erst diese brutalen Typen, dann diese verrückte Frau, das seltsame Brummen in ihrer Hand, die unheimlichen Schatten und nun auch noch dieser ungewöhnliche Brunnen und diese blöde Mutter. Wenn das nicht ein schlechter Tag war, wie sollte sonst einer aussehen?
Er wollte sich darauf keine Antwort ausmalen und genoss einfach nur den sanften Luftzug, der ihm in sein Gesicht wehte.
Dann starrte er auf den Brunnen.
Das aufgewühlte Wasser, welches gleichmäßig in seine Richtung plätscherte, verunsicherte ihn. Es war recht seltsam anzusehen. Irgendetwas stimmte mit dem Brunnen nicht.
Jan fiel auf, das sich die Luft oberhalb des Brunnens, ein wenig zu bewegen schien.
So wie im Sommer die Luft über der heißen Straße sich bewegte und spiegelte, auf die gleiche Art sah er sie nun auch über dem Brunnen.
Ihm war dieser Effekt noch niemals zuvor bei einem Brunnen aufgefallen.
Dabei war er oft auf diesem Marktplatz.
An diesem Tag war wirklich alles anders.
Litt er womöglich an wahnhaften Vorstellungen?
Er hatte genug davon und erhob sich von der Bank. Eine Runde durch die Straßen ziehen, das wollte er. Einfach nur Abstand von seinem Ärger gewinnen. Zwar tat ihm noch alles weh, aber das ließ sich aushalten.
Kaum hatte Jan den Marktplatz verlassen, spürte er in sich das Gefühl, beobachtet zu werden. Das war eine ganz unangenehme Ahnung.
Immer wieder blickte er sich um.
Ihm kam es ein wenig so vor, als würde ihm jemand folgen.
Als Jan aber niemanden sah, schüttelte er nur den Kopf und schlenderte weiter, die Straße entlang.
Kaum Menschen waren unterwegs.
So konnte er versuchen, sich ein wenig besser zu fühlen.
Wenn die Stadt voller Menschen war, viele Leute durch die Straßen hetzten, dann fühlte er sich nie gut. Er hatte dann immer das Gefühl, sie würden ihn alle nur abstoßend und widerlich finden. Viele Menschen finden Armut abstoßend.
Das ist einfach so.
Jan aber, er wollte gemocht und anerkannt werden.
Welcher Mensch will denn nicht gemocht werden?
Plötzlich war es wieder da, dieses unangenehme Gefühl, verfolgt zu werden.
Wieder dreht Jan sich um, war aber jetzt schneller, als zuvor.
Etwa drei Fahrzeuglängen hinter ihm, da meinte er einen Schatten ganz nahe an einem Haus entlang huschen zu sehen.
Konnte das sein?
Sicher hatte er sich geirrt.
Er musste sich einfach geirrt haben.
Jan drehte sich wieder um und ging erneut seines Weges.
Nach wenigen Metern blieb er plötzlich stehen und drehte sich erneut um.
Da sah er ihn ganz deutlich.
Ein schwarzer Schatten huschte wenige Meter über dem Boden an der Hauswand entlang und näherte sich ihm.
Jan erschrak fürchterlich.
Die Angst war augenblicklich wieder präsent.
Er wechselte die Straßenseite und beobachtete angespannt, was geschah.
Da war er wieder.
Dieser Schatten war nun bereits auf seiner Höhe auf der anderen Straßenseite und schien regelrecht an der Hauswand zu kleben. In seiner Unförmigkeit wirkte er unheimlich.
Jan bewegte sich nicht.
Er wartete ab.
Kaum zu atmen traute er sich.
Dann sank der Schatten plötzlich von der Hauswand auf den Boden hinab und näherte sich ihm. Wie eine schwarze Pfütze, so sah er auf dem Boden aus und überquerte langsam die Straße.
Dann hörte Jan wieder dieses unwirkliche Wispern.
Je mehr sich der Schatten ihm näherte, desto deutlicher konnte er es hören.
Plötzlich schaltete sich sein Instinkt ein.
Er begann die Straße hinunterzulaufen.
Nach einigen Metern stoppte er und blickte besorgt zurück.
Der Schatten folgte ihm. Jan lief immer schneller und schneller die Straße entlang.
Er begann zu schwitzen.
Sein schneller Atem, er rieb an seinen Bronchien.
Als er an der Kreuzung angekommen war, musste er eine kleine Pause einlegen.
Er war eben nicht mehr der Jüngste. Seitenstechen hatte sich eingestellt.
Von dem Schatten war nichts mehr zu sehen. Das war gut.
Ein Auto kam rasch heran, bog dann rechts ab.
Das unheimliche Ding, es war weg.
Jan lehnte sich an die Hauswand und wischte sich mit der freien Hand den Schweiß von der Stirn. Was war das nur für eine Sache gewesen? Das konnte nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Er glaubte nicht an Geister und böse Monster. Doch dieses Phänomen, es war tatsächlich sehr ungewöhnlich.
Doch da!
Das Wispern war wieder zu hören, und es wurde wieder lauter.
Jan fluchte.
Gerade wollte er sich in einem alten Hausflur verstecken, da bemerkte er zwei weitere Schatten auf der anderen Straßenseite, die sich ihm rasch näherten. Das Wispern war nun ganz deutlich zu hören und er ahnte, dass er den Biestern nicht so leicht entkommen konnte. Was wollten sie nur von ihm?
Er versteckte sich hinter der alten Haustür aus Holz und konnte nur hoffen, dass dieser unheimliche Fluch an ihm vorübergehen würde.
Doch dann bemerkte er, dass sich der alte Hausflur plötzlich verdunkelte.
Das Wispern war jetzt ganz nahe.
Da an der Wand, da war eines von den Dingern.
Langsam kam der Schatten näher, drängte Jan immer weiter in seine Ecke hinein.
Der alte Mann zitterte am ganzen Körper.
Er hatte unglaublich viel Angst.
Dann hob sich ein Teil des Schattens von der Wand ab und legte sich auf seine rechte Hand. Unmittelbar darauf spürte Jan ein leichtes Vibrieren an seiner Hand, ganz ähnlich wie jenes, das er gespürt hatte, als Marsha sich von ihm verabschiedet hatte.
Sein Arm wurde fast ganz taub davon und eine bleierne Müdigkeit breitete sich gnadenlos über Jans Geist aus. Er wurde immer schwächer.
Seine Beine knickten schließlich ein.
Er sank zu Boden. »Marsha…«, flüsterte er flehend.
Doch Marsha war nicht da, um ihn zu retten.
Immer mehr und mehr saugte dieser finstere Schatten ihm die Kraft aus seinem Körper. Schließlich fielen ihm die Augen zu.
Er verlor sein Bewusstsein.
Als Jan seine Augen aufschlug, lag er in seiner Wohnung in seinem Bett.
Er war noch ganz schwach, und sein Arm lag kraftlos neben ihm.
Er war dicht an seinen Körper angelegt. Immer noch war er fast völlig betäubt.
»Kaffee?«, hörte er eine weibliche Stimme.
Als er die Frage zustimmend beantwortete, konnte er selbst nur ein ziemlich übles Krächzen hören.
»Ich deute das einmal als ein Ja.«, meinte Marsha, die bereits frischen Kaffee aufgegossen hatte, den sie vom Bäcker oben an der Straße mitgebracht hatte. Sie füllte ein wenig von dem heißen Getränk in einen alten Becher und reichte ihn dem alten Jan.
Stöhnend setzte er sich auf und griff mit seinem gesunden Arm nach dem Becher.
Er trank einen Schluck, während er von Marsha dabei aufmerksam beobachtet wurde.
Dann bemerkte er, dass er nackt war. Ihm war das peinlich, und er bedeckte seine Blöße.
»Janilein, was meinst denn du, wer dich ausgezogen hat?», meinte Marsha und grinste ihn breit an.
»Wie…wie bin ich hier her gekommen? Die Schatten, wo sind sie?«, stammelte Jan ein wenig unbeholfen vor sich hin und war ziemlich verwirrt.
»Sie sind fort. Jedenfalls zunächst sind sie das.«, meinte Marsha. Sie war offenbar ganz gut gelaunt.
Jan platzte es aufgeregt heraus: »Was waren das nur für Dinger? Ich habe so etwas noch niemals zuvor erlebt. Die sind unglaublich schnell und sehr gefährlich. Man muss die Menschen vor ihnen warnen? Schnell, Marsha, rufen wir gleich den Stadtanzeiger an.«
Er versuchte aufzustehen, um sein Mobile zu suchen. Doch kaum hatte er sich erhoben, hörte er ein tiefes Knurren, das von der Unterseite des Tisches zu ihm drang.
»Aus, Larissa!«, rief Marsha.
Ein kniehoher Mischlingshund kam unter dem Tisch hervor und lief mit wedelndem Schwanz zu Marsha.
Jan blickt erschrocken den Hund an.
Das Fell der Hündin war völlig schwarz. Nur an zwei Pfoten war es weiß, so dass es fast aussah, als würde sie dort weiße Stiefelchen tragen.
»Darf ich vorstellen? Das ist Larissa. Sie ist eine ganz brave Maus. Schau doch, sie ist ganz lieb.«, meinte Marsha und kraulte Larissa hinter dem Ohr. »Sie hat dir das Leben gerettet. Ohne sie, würde es dich nicht mehr geben, Janilein«, fuhr sie dann fort.
»Ich verstehe nicht. Was hat der Hund mit diesen üblen Kreaturen zu tun?«
»Diese schattenartigen Kreaturen, sie werden als Umbrae Mortis bezeichnet und sie sind eigentlich mehr lästig, als gefährlich, wenn man mit ihnen umzugehen weiß. Jedenfalls war das bisher immer so.«
Jan blickte sie nun sichtlich erheitert an.
»Na klar, Umbrae Mortis. Du willst mich auf den Arm nehmen, Marsha. Was hast du mit diesem unheimlichen Phänomen zu tun? Die miesen Dinger hätten mich fast umgebracht.«
»Ja, das hätten sie, wenn die kleine, süße Larissa nicht gewesen wäre. Die Umbrae Mortis kann man nicht erschlagen, treten oder würgen. Man kann sie nicht einfach so töten, als wären sie Fliegen. Sie sind eigentlich auch keine Schatten. Sie widerstehen auf ihre ganz eigene Art, einfach nur dem Licht. Sie sind wie hungrige Vampire, nur dass sie nicht nach dem Blut von Menschen lechzen, sondern auf einen ganz anderen Saft scharf sind. Doch dazu komme ich später, Janilein. Die Umbrae Mortis haben dich schneller gefunden, als mir es lieb war. Ihre Zahl ist in der letzten Zeit gewachsen. Nur Hunde sind in der Lage, sie zu vertreiben. Sie hassen Hunde, musst du wissen. Daher werden wir dir auch rasch einen Hund besorgen müssen. Sie werden schon bald wiederkommen und ohne Hundilein, da wirst du nicht mit ihnen klar kommen.«
»Aber wir haben doch Larissa.«, wandte Jan frech ein und grinste Marsha dabei immer noch ungläubig an.
Er hatte sich insgeheim vorgenommen, Marshas Spiel ein wenig mitzuspielen.
Immerhin hatte sie ihn jetzt schon zweimal vor Unheil gerettet.
Sie beeindruckte ihn, obwohl sie noch so jung war.
Okay, sie sah zudem auch noch verdammt gut aus. Er mochte ihre weiblichen Rundungen, das feine, süße Parfüm, die wundervollen langen, schwarzen Haare, und er hörte ihre weiche Stimme sehr gerne.
Zu lange schon hatte Jan alleine mit seinen leeren Pfandflaschen gelebt.
Er hatte schon fast vergessen wie es war, eine hübsche Frau um sich zu haben.
»Sicher haben wir Larissa. Doch du wirst in Zukunft wohl immer einen Schutz vor den Umbrae Mortis benötigen. Auch wenn Larissa und ich einmal nicht da sind, um dir beizustehen.«
»Bist du irgendwie vom Tierschutzverein, oder so? Das ist doch bestimmt nur eine kluge Masche, hässliche, kleine Hunde zu vermitteln. Marsha, ich bitte dich, was erzählst du mir da?«
»Auch wenn du mir nicht glauben magst, diese Schatten waren doch real und ihr Angriff war es auch. Das willst du doch wohl nicht bestreiten, oder? Warum sollte ich dir Unfug erzählen?«
Larissa jaulte und keuchte ein wenig herum.
Seltsam hörte sich das an. Es klang fast so, als wollte sie uns etwas sagen.
Marsha blickt zu der Hündin nach unten und sah sie ernst an.
Daraufhin bellte Larissa einmal auf und verschwand sogleich wieder unter dem Tisch.
Jan war erstaunt darüber, wie gut die Hündin auf ihre Herrin hörte.
Offenbar reichten Blicke aus, um Larissa zur Folgsamkeit zu bewegen.
»Vom Tierschutzverein bin ich ganz sicher nicht. Ich denke aber, dass du schon ein wenig mehr wissen solltest, um mich zu beurteilen. Die Umbrae Mortis waren auf etwas aus, was du in dir trägst, Janilein. Sie sind ganz gierig nach dem Xyralum, das dich durchdringt. Sie sind sehr einfältige Wesenheiten und nicht sehr intelligent. Sie folgen blind ihrem Instinkt, der sie gnadenlos immer wieder zu dem Xyralum führt. Es ist eine Art ewige Sucht, die in ihnen brennt und die sie dazu zwingt, das Xyralum gewaltsam aus dir herauszusaugen. Sie sind einfach jämmerliche Kreaturen.«, erklärte Marsha mit einem Ernst, das man ihr fast Glauben schenken konnte.
»Das Xyralum? Was für ein Xyralum? Ich kenne nur ein Xyralum, nach dem die Frauen bei mir scharf waren.«, verhöhnte sie Jan und nahm Marsha nicht ernst.
»Das Xyralum ist die Kraft, die das Universum zusammenhält und alle Welten miteinander verbindet. Es ist überall und durchdringt alles, wenn auch oft nur in einer sehr schwachen Konzentration. Für die Umbrae Mortis ist es eine echte Qual, das Xyralum mühsam aus der Welt herauszufiltern, um selbst überleben zu können. Sie sind wie Verdurstende in der Wüste, die sich den letzten Rest Feuchtigkeit aus der Luft ziehen müssen, um überleben zu können.«
»Interessant. Doch warum weiß unsere Wissenschaft nichts davon? Ich denke, mein liebes Kind, du erzählst mir hier ein ganz erstklassiges Märchen.«
Marsha jedoch, sie zeigte sich von seiner Anschuldigung unbeeindruckt. Mit ernster Miene setzte sie ihre Geschichte einfach fort.
»Das ist kein Märchen. Die Wissenschaft auf dieser Welt, sie ist einfach noch zu wenig entwickelt, um davon zu wissen. Es gibt nahezu unzählig viele Welten, die man die Erdäen nennt. Dieses Erdäum hier, in dem wir jetzt leben, es ist als Terra bekannt. Zwischen den Erdäen gibt es keine wahrnehmbare Trennung, keine fühlbare, materielle Grenze. Es ist lediglich die Grenze des menschlichen Bewusstseins, welche die Erdäen voneinander trennt. Das Xyralum ist die einzige Kraft, die alle Erdäen miteinander verbinden kann, aber sie auch voneinander trennt. Nur mit Hilfe des Xyralums ist es möglich, seine Bewusstseinsgrenzen zu überwinden und zwischen den Erdäen zu reisen. So ist es verständlich, dass die Umbrae Mortis reisen können, wohin es ihnen beliebt und man sie nahezu in jedem Erdäum antreffen kann. Sie sind sehr lästige Kreaturen. Man darf sie jedoch niemals unterschätzen. Auch diese Schattenbiester haben sich weiterentwickelt.«
Jan lachte laut auf.
»Was für geiles Zeug nimmst du nur? Das will ich auch haben.«, meinte er lachend.
»Siehe mich an, Marsha. Sehe ich wirklich so blöd aus, als dass ich dir so einen verdammten Mist glauben würde. Offenbar denkst du, dass man einen alten Penner, so wie ich es bin, jedes blödsinnige Märchen auftischen kann. Ich werde mir keinen Kläffer zulegen. Auf keinen Fall werde ich das. Alles klar? Weiß du, was ich tun werde? Ich werde jetzt den Stadtanzeiger anrufen und die Leute vor diesem Phänomen warnen.«
Jan stand auf, zog sich seine Hose an und suchte sein Mobile. Marsha hatte sich inzwischen auch erhoben und stand nun unmittelbar vor der stählernen Kellertür im Vorflur der Wohnung. »Du wirst mir glauben, Jan, da bin ich mir ganz sicher.«
»Ganz gewiss werde ich das, Marsha.«, lachte Jan sie ein wenig aus und fingerte an seinem Mobile herum, das er inzwischen gefunden hatte.
Er wählte die Nummer der Telefonauskunft und schüttelte dabei leise vor sich hin lachend den Kopf.
Plötzlich kam Larissa unter dem Tisch hervor und bellte ihn aufgeregt an.
Jan hob den Kopf. Als er Marsha direkt in das Gesicht sah, da bemerkte er, dass sie plötzlich stärker atmete, was ihn schon ziemlich verwunderte.
Larissa war ganz aufgeregt und lief bellend in der kleinen Wohnung umher.
Mit einem Mal hob Marsha ein wenig ihre rechte Hand, worauf ein ohrenbetäubend lauter Knall den armen Jan zusammenzucken ließ. Die schwere Kellertür aus Eisen, sie war aus der Verankerung im Beton gerissen worden und lag nun neben Marsha auf dem Boden in seinem Wohnzimmer.
Entsetzt sah Jan auf die breite Metalltür.
»Na, Janilein, glaubst du mir jetzt?«, meinte Marsha ruhig und sah ihn genervt an.
Jan schüttelte nur entgeistert seinen Kopf.
Das war Marsha offenbar nicht genug.
Sie bewegte erneut zwei Finger ihrer rechten Hand, worauf sich die Eisentür, wie durch eine Geisterhand gegriffen, in die Luft erhob. Es gab ein erneutes ohrenbetäubendes Krachen und Jan konnte sehen, wie die Tür in der Mitte regelrecht in sich zusammengefaltet wurde. Es schien ihm fast, sie wäre nur aus Pappkarton gewesen. Dann gab es ein erneutes Krachen, so dass der arme Jan sich die Ohren schützend zuhalten musste. Die gefaltete Kellertür war jetzt ein weiteres Mal in der Luft zusammengefaltet worden und dann laut krachend vor ihm auf den Wohnzimmerboden gefallen.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Jan auf das kleine Eisenpaket vor ihm auf dem Boden, das noch vor wenigen Augenblicken eine schwere Eisentür gewesen war.
Die Luft roch seltsam angebrannt.
Kraftlos ließ Jan sein Mobile aus seiner Hand fallen.
»So, nun glaubst du mir vielleicht.«, meinte Marsha zufrieden und kam wieder in die Wohnung.
Sie setzte sich und schlug zufrieden ihre Beine übereinander.
Larissa machte einen großen Bogen um den Eisenhaufen und legte sich vor Marsha auf den Boden. Jan stand noch immer entgeistert und mit offenem Mund in seiner Wohnung und rührte sich nicht.
»Um noch einmal auf das Thema Hund zu kommen, welche Rasse bevorzugst du?«, fragte Marsha ihn dann und plötzlich, man mag es kaum glauben, sah man ein zaghaftes Lächeln auf ihren vollen Lippen.
Jan ging wortlos zu ihr und setzte sich auf das Bett.
Viele Sitzgelegenheiten gab es bei ihm leider nicht.
»Du kannst es dir ja noch überlegen.«, meinte Marsha weiter. »Wer das Xyralum kontrollieren kann, der ist sehr mächtig. Alles was sich zwischen den Erdäen bewegt, muss das Xyralum einsetzen. Es führt kein Weg am Xyralum vorbei. Sämtliche neuen Reize eines Erdäums, sie sind fast alle auf das Xyralum zurückzuführen. Vielleicht hast du schon einmal etwas von dem sagenhaften Weltbewusstsein gehört? Oder hast du etwas über die Akasha-Chroniken, in denen alles Wissen der Welt von den Engeln des Herrn akribisch aufgeführt wird, gelesen? Die großen Denker eines Erdäums sind nur große Denker, weil sie mit Hilfe des Xyralums an privilegierte Informationen herankommen. Sie treiben mit ihren Errungenschaften die Evolution einer ganzen Gesellschaft voran. Die kreativen Vorbilder erhalten ihre Informationen aus anderen Erdäen mittels des Xyralums. Das geschieht manchmal bewusst, sehr oft aber auch vollkommen unbewusst. Oft ist bereits geschehen, dass ein einfacher Schriftsteller in seinen Büchern über Dinge und Gegebenheiten schrieb, die ihm eigentlich nicht bekannt gewesen sein durften. Sie haben sich bei ihrem Schreiben ganz unbewusst bei dem Wissen anderer Erdäen bedient und damit die Gesellschaft ihrer eigenen Welt verändert. Somit dürfte dir vielleicht auch ein wenig klar werden, lieber Janilein, welche grundlegende Bedeutung das Xyralum für die Evolution einer Gesellschaft hat. Ohne Xyralum gibt es keine Entwicklung, und die Kulturen verlieren die Fähigkeit, ihre Probleme zu lösen. Wird ihnen der Zugang zu dem Xyralum verwehrt, dann geht eine Kultur langsam zugrunde. Sie stirbt dann genauso, wie eine Pflanze im Sommer, erhält diese nicht genügend Wasser. Probleme werden nicht mehr gelöst, Kriege brechen aus, man verliert die Fähigkeit, die Umwelt vor Schaden zu bewahren. Auf Dauer zerstören diese Kulturen ihren eigenen Lebensraum.«
»Allmählich verstehe ich es. Die Menschen auf dieser Welt, diesem sogenannten Erdäum Terra, sie haben viele Probleme. Überbevölkerung, Umweltschäden, Treibhauseffekt und zu viele sinnlose Kriege erschüttern dein Terra, wie du es nennst. Oft meint man fast, die Politiker auf dieser Erde, sie finden einfach keine Lösungen und stehen dem Verfall machtlos gegenüber. Das alles, Marsha, das soll auf ein Problem mit diesem seltsamen Xyralum zurückzuführen sein? Doch warum sind dann diese fiesen Schattenbiester hier, diese Umbrae Mortis?«
»Ja, viele Erdäen haben große Probleme mit dem Xyralum. Auch unser Erdäum Terra, es hat inzwischen Probleme mit ihm. Aus diesem Grund habe ich den Weg zu dir gesucht, Janilein. Es war kein Zufall, dass wir uns begegnet sind. Ich bin einer der Xyrale von Terra. Die Xyrale gibt es in jeder dieser Welten. Sie sind die Wächter des Gleichgewichts des Lebens, dem sogenannten Waagumal. Mit Hilfe des Xyralums wirken sie auf die Erdäen ein. Das Waagumal zu kontrollieren bedeutet, es stets dezent über alle Erdäen schwingen zu lassen, um die Evolution der Völker voranzutreiben. Es sind die Reize des Lebens, das Erleiden und Erfahren seiner Inhalte, von denen die Völker lernen und Lösungen erdenken. Zwar schützen viele Xyrale das Waagumal, doch kümmern sie sich nicht mehr fühlbar um sein Schwingen. So bleibt es nicht aus, dass die Evolution sich langsam in Richtung Stillstand bewegt. Die mächtigsten Xyrale in den Welten, sie sind einfach müde und träge geworden. Sie geben ihr Wissen stets an einige ihrer Günstlinge, zumeist unerfahrene, ihnen gefügige Xyrale weiter und kümmern sich selbst nicht mehr um ihre Verantwortung. So gibt es mehr und mehr Erdäen, in denen die Völker und Gesellschaften unruhig werden. Viele Völker wissen um die Xyrale und das Xyralum. Andere Gesellschaften jedoch, wie eben auch jene hier von Terra, sie sind einfach unwissend. So entwickeln sich einige Erdäen zu schnell weiter, andere verharren auf der Stelle, weil sie beim Schwingen des Waagumals benachteiligt werden und drohen dadurch allmählich im Chaos zu versinken. Es ist eine Schande, was zur Zeit geschieht. So gibt es Erdäen, deren Gesellschaften sich bereits so weit entwickelt haben, dass sie versuchen könnten, das Xyralum und auch das Waagumal selbst zu kontrollieren. Das Reisen zwischen den Erdäen, es wird auf diese Art und Weise eine Fähigkeit weniger Kulturen bleiben. Es droht die Gefahr, dass sie missbraucht wird. Es brechen schwierige Zeiten heran, Janilein. Ich war einfach gezwungen, nach dir zu suchen.«
Jan hatte Marsha schweigend zugehört.
Er wusste nicht, was er von dieser Geschichte halten sollte.
Wäre da nicht die schwere Eisentür, die zusammengefaltet mitten in seinem Wohnzimmer auf dem Boden lag, dann hätte er Marsha für jung, hübsch und unglaublich geisteskrank erklärt. Ebenso war da noch der extrem reale Vorfall mit diesen ominösen Schatten, diesen Umbrae Mumpitz, oder wie immer Marsha sie auch nannte.
Jan war völlig durch den Wind.
Er wusste nicht, was für ein Film hier gerade in seiner Wohnung ablief.
Er war kurz davor, das Wohnzimmer nach Kameras abzusuchen. Vielleicht war er ein ahnungsloser Gast in irgendeiner TV-Show?
Marsha bemerkte die Unruhe bei Jan und war ein wenig besorgt um den alten Mann mit dem wirren Bart.
Es war ein wenig viel für ihn gewesen.
Das wusste sie gut. Aber die Zeit drängte.
Sie musste ihn so schnell es ihr nur möglich war, wieder zurückholen.
»Doch was habe ich mit dieser ganzen Sache zu tun? Ich bin nur ein ganz einfacher, alter Mann. Warum sucht so eine hübsche und junge Frau nach mir altem Sack? Ich verstehe das alles nicht, Marsha.«, beschwerte sich Jan.
»Weil du eben selbst ein Xyral bist, Janilein. Nur hast du vergessen, dass du einer bist. Du hast erfolgreich verdrängt, wer du bist. Das Xyralum ist eine Sache des Geistes. Ebenso sind die Grenzen zwischen den Welten eine Sache des Bewusstseins und des Geistes aller denkenden Individuen. Xyral zu sein bedeutet die Fähigkeit zu besitzen und einzusetzen, das Xyralum zu kontrollieren. Das ist ihre Aufgabe im Gefüge des Seins. Eines der wichtigsten Werkzeuge dafür ist die Fähigkeit zur Fantasie. Ohne einer gehörigen Portion Fantasie wird es einem Xyral niemals gelingen, die Auswirkungen des, von Natur aus recht schwer zu kontrollierenden Xyralums in den Griff zu bekommen. Im Erdäum Terra besitzen in erster Linie nur junge Menschen genügend von dieser Gabe der Fantasie. Die kindliche Fantasie ist ein kostbares Gut, Janilein. Daher sind alle Xyrale in Terra jung und stets am Rande der Klippe der kindlichen Fantasie zu finden. Nur wenige haben im bereits mittleren Alter noch genügend Fähigkeit zur Fantasie, um damit das Xyralum erfolgreich und nutzenstiftend zu kontrollieren. Du, alter Jan, du warst früher einer der mächtigsten und begabtesten Xyrale in Terra. Das Xyralum in dir, es hatte eine extrem hohe Konzentration, bevor das Unglück geschah.«
Marsha unterbrach ihre Rede. Sie senkte ihren Blick, setzte dann aber wieder ein.
»Dutzende Umbrae Mortis waren im Schutz der Dunkelheit der Nacht über dich hergefallen, als du deine beiden treuen Hunde suchtest. Sie waren von deiner ersten Frau vergiftet worden. Deine Frau hatte die Hunde gehasst und deine ständige Abwesenheit ihnen angelastet. Bei der verzweifelten Suche nach den Hunden warst du von einer großen Anzahl Umbrae Mortis überfallen und fast getötet worden. Niemand war da, um dir zu helfen. Sie hatten nahezu alles Xyralum aus dir herausgesogen. Eine junge Hündin aus der Nachbarschaft, sie kam zufällig vorbei, sah dich leblos auf dem Boden liegen und hat die Schatten mutig vertrieben. Danach warst du einfach nicht mehr der selbe Mann. Du hattest alle Kraft verloren. Dein Wille zum Leben, er schien erloschen. Deine Frau verließ dich. Die Trauer um deine Hunde, sie war so stark, dass du mit dem Trinken angefangen hast. Hunde sind für Xyrale etwas ganz Besonderes. Ein ganz besonderes Band der Freundschaft verbindet Xyral und Hund. Den Rest der Geschichte, den kennst du ja wohl selbst am besten. Mit dem Verlust deiner Fantasie hast du begonnen zu altern und zu vergessen. Dir war das Schicksal des Waagumals ebenso unwichtig geworden, wie den anderen mächtigen Xyralen. Nur hattest du keine Schuld an diesem Umstand. Doch das wollte keiner mehr von den anderen Lenkern wissen. Für sie warst du an das Alter verloren. Doch für mich, für mich warst du niemals verloren, Janilein. Wir waren Freunde, und ich habe so viel von dir gelernt, als ich noch ein Kind war. Es hat mir fast das Herz gebrochen, dich vergessen und altern zu sehen. An dem Tag, an dem du schließlich auch mich vergessen hattest, brach für mich eine Welt zusammen. In Terra ist diese Redewendung mit dem Weltzusammenbruch sehr bekannt, ohne das die Menschen wissen, was sie wirklich besagt.«
Marsha lächelte Jan erwartungsvoll an.
Doch Jan zwinkerte nur ungläubig.
Richtig war die Geschichte seiner ersten Scheidung, die Sache mit den beiden Hunden und die Sache mit seiner Sauferei. Doch alles andere, das war für ihn neu.
Er erinnerte sich keine Spur mehr an dieses Leben, das Marsha ihm eben zuvor beschrieben hatte.
Er, der alte Flaschen-Jan, ein Xyral? Lächerlich!
Es war regelrecht aus seinem Bewusstsein heraus gelöscht worden, sollte es denn tatsächlich so sein, wie sie es erzählt hatte.
Jan konnte und wollte Marsha nicht glauben.
Er dachte schon daran, sie aus seiner Wohnung zu werfen, sie vielleicht sogar bei der Polizei anzuzeigen. Doch dann fiel sein Blick immer wieder auf den Eisenhaufen auf dem Boden seine Wohnzimmers.
Klasse.
»Nehmen wir einmal ganz entfernt an, dass ich dir glauben würde. Dann frage ich mich, wie ich dir heute noch von Nutzen sein kann? Wenn ich mich nicht an dich und alles andere erinnere, ich meine Fähigkeiten verloren habe und meine Fantasie zu wünschen übrig lässt, dann bin ich wertlos für dich und dieses Terra. Ich bin alt und nicht jung, Marsha.«
»Das ist richtig. Du bist nicht mehr so knackig, wie du es früher warst. Was dir genommen wurde, das kann ich dir auch nicht wieder zurückgeben. Doch es gibt einige ganz wenige Menschen in Terra, die sich ihr Volumen an kindlicher Fantasie bewahren können. Wie sie das schaffen, das ist mir ein Rätsel. Doch es gibt derartige Fälle. Ich wollte mich davon überzeugen, ob da nicht doch mehr Vergangenheit in dir schlummert, als die Xyrale es zu meinen glauben. Wir brauchen in diesen unruhigen Zeiten die Hilfe jedes einzelnen Xyrals. Ich habe die Hoffnung bei dir niemals aufgegeben, dass du dich erinnern wirst. Du hättest es verdient, alter Freund, nach allem, was man dir angetan hat. Terra braucht dich. Die Menschen in Terra, deine Nachbarn und die Leute auf der Straße, sie brauchen dich alle.«
Jan sah sie an. Er schwieg.
Larissa lag nun auf Marshas Fuß und schlief. Alles war ruhig in der Wohnung.
»Nein, ich kann dir nicht helfen, Marsha. Auch sind mir die Menschen ziemlich egal. Sie behandeln mich schlecht, ekeln sich vor mir und verprügeln mich. Warum sollte ich ihnen helfen? Nein, dazu habe ich keine Lust.«, sagte Jan plötzlich und stand auf.
Enttäuscht wandte Marsha sich von Jan ab und schüttelte enttäuscht mit dem Kopf.
»Bitte, Marsha, ich kann dich wirklich gut leiden. Immerhin bist du eine der wenigen Frauen, die meinen Dingdong sehen durften. Auch bin ich dir für deine Hilfe sehr dankbar. Doch ich kann dir nicht helfen. Ich erinnere mich an nichts von dem, was du erzählt hast.«, setzte er fort.
»Du willst es nicht einmal probieren?«, fragte Marsha ihn, und fast konnte man meinen, dass ein leises Flehen in ihrer Stimme mitschwang.
Jan schüttelte nur abweisend seinen Kopf.
»Ich denke, du solltest jetzt gehen.«, meinte er dann und sah zur Tür. Er versuchte freundlich zu sein. Hinter ihm hörte er, wie es raschelte. Dann war da ein Gähnen von Larissa.
»Nein, Larissa, ich möchte, dass du bei dem Onkel Jan bleibst. Er braucht deine Hilfe gegen die Umbrae Mortis.«, hörte er Marsha flüstern und verdrehte die Augen.
Daraufhin ein jaulendes Geräusch und eine Art Keuchen von Larissa.
»Nein, Larissa, ich glaube nicht, dass er dich vor die Tür setzen wird. Ich glaube ernsthaft, dass er dich wirklich mag.«
Jan schloss seine Augen und schüttelte erneut den Kopf. Ihm schien es, als würde Marsha mit Larissa, der kleinen Hündin(!), sprechen. Das war doch Wahnsinn. Alles war Wahnsinn, seit er diese ausgeflippte Frau getroffen hatte. Larissa jaulte wieder und keuchte, als wollte sie sich ihr mitteilen.
»Ich werde schon auf mich aufpassen, Larissa. Nach einigen Wochen wird das Xyralum in Jans Arm wieder kaum wahrnehmbar sein. Dann hole ich dich hier wieder ab.«, meinte Marsha und lief an Jan vorbei, bis sie an der Tür ankam.
»Ich denke, das geht für dich in Ordnung.«, meinte sie dann ein wenig traurig zu Jan und öffnete die Tür. Ihre Augen glänzten ein wenig. »Du kannst die Geschichte gerne deinen Nachbarn erzählen. Niemand wird sie dir glauben, Jan. Ich sage es dir gleich. So sind sie eben, die Menschen in Terra. Sie entwickeln sich einfach nicht mehr weiter. Bald werden sie nicht einmal mehr bemerken, dass sie ihren eigenen Lebensraum zerstört haben. Anschließend wird alles ziemlich schnell gehen. Ein weiteres dieser toten Erdäen, das wird Terra in den Weiten des Universums sein. Wenn es nicht die Menschen in Terra interessiert, wen sollte es sonst schon noch interessieren? Die Menschen hier, sie werden sich selbst ausgelöscht haben. Das ist doch irre, oder?«
Jan bemerkte, das Marshas Augen sich mit Tränen füllten. Er wurde verlegen. Es war für ihn schon immer unangenehm gewesen, wenn Frauen in seiner Gegenwart weinten.
»Ich werde es leider nicht ändern können. Nur einer bin ich, ein einzelner Mensch und ein alter dazu. Was kann einer alleine schon bewirken?«
»Wenn du es sagst, Jan. Wir werden uns in einigen Wochen noch einmal wiedersehen, wenn ich die kleine Larissa wieder abhole. Überlege es dir noch einmal. Wenn du es schon nicht den Menschen oder mir schuldig bist, so aber auf jeden Fall der kleinen Larissa. Sie hat immerhin ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um dir deines zu retten.«, meinte Marsha knapp, als sie die Treppen zur Straße hoch stieg.
Jan blickte ihr noch einmal nach, sah dann aber nur noch, wie Marsha vom Treppenabsatz in Richtung Straße verschwand.
»Ade, liebe Marsha. Es ist besser so für uns alle, gehen wir getrennte Wege. Das Vergessen erreicht man über die Pfade der Erleichterung, die stets den Berg hinabführen. Doch um sich erinnern zu wollen, muss man jene Pfade wieder beschwerlich hinaufsteigen. Obwohl es die gleichen Pfade sind, so nennt man sie dann die Pfade des Leidens. Diese muss und kann ich nur alleine erfahren.«, flüsterte er dann leise zu sich, damit ihn keiner hören konnte.
Doch er sollte sich irren.
Larissa lag mit offenen Augen unter dem Tisch und hörte sehr wohl, was er sagte.
Dann ging Jan zu seinem Keller, um die Tür von dort, bei seiner Wohnung einzuhängen.
So eine Wohnung ohne Tür, das war einfach nichts für ihn.
Autor: © Alexander Rossa 2024