Bina wusste nicht, was sie tun sollte.
Der Morgen war inzwischen heran gebrochen. Einige Vögel zwitscherten im Wald.
Die beiden unheimlichen Männer standen noch immer vor ihrem Haus und wollten den unwissenden Jan sprechen. Viel wahrscheinlicher war es jedoch, dass sie ihn nur töten wollten.
»Ich denke, wir sollten hinaus gehen und das wie Männer klären.«, meinte Naham schliesslich und sah zu seinen beiden Freunden.
Diese waren von der Idee jedoch nicht wirklich überzeugt. Immerhin schienen die beiden Männer vor Binas Haus magische Kräfte zu besitzen. Wie sonst war es zu deuten, dass man mit einer Armbrust einfach durch sie hindurch schiessen konnte, ohne sie zu verletzen? Was sollten ein paar junge Burschen aus dem Dorf schon gegen Magie ausrichten?
Naham bemerkte sogleich die unsicheren Blicke seiner Freunde und meinte: »Nun stellt euch einmal nicht so an. Immerhin sind wir in der Überzahl. Wir sollten versuchen, mit den beiden Typen zu verhandeln. Die wollen doch nur mit unserem Vergewaltiger sprechen. Vielleicht können sie ihn auch gleich mitnehmen? Schade wäre es sicher nicht um ihn.«
»Das werden sie ganz sicher nicht. Er bleibt hier. Sie wollen nicht einfach nur mit ihm sprechen. Das weißt du ganz genau, Naham. Sie wollen ihm nur Leid zufügen und ihn vielleicht sogar töten.«, mischte sich Bina ein.
Naham sah zum unwissenden Jan hinunter, der noch immer geistreich den Boden mit seinem Speichel benetzte.
»Wen stört das, Bina? Sieh dir diesen Kerl doch nur an. Diese Kreatur hat versucht, dich zu vergewaltigen. Sei doch froh, wenn sie ihn mitnehmen. Dann bist du ihn los.«
Bina stellte sich provozierend vor den unwissenden Jan.
»Naham, ich warne dich. Jeder der ihm auch nur ein Haar krümmt, wird es mit mir zu tun bekommen. Diese beiden Männer dort draussen, sie sind gefährlich. Ich weiss nicht, was sie hier wirklich wollen. Ich kenne sie nicht. Doch ich weiss, dass sie gefährlich sind und mit Sicherheit den Tod und Leid bringen werden.«
Naham sah sie verwundert an.
»Wie kannst du das wissen? Beherrschst womöglich auch du die dunklen Künste oder die Gabe der Hellsicht? Ja, das könnte doch gut sein. Immerhin wohnst du ganz alleine und einsam hier draussen in der Wildnis. Du hast keinen Mann, keine Söhne, die dich beschützen. Da kann es doch gut sein, dass du mit der Finsternis und ihren üblen Kreaturen einen Pakt geschlossen hast. Vielleicht sind diese Männer ein Werk deiner dunklen Machenschaften?«, gab er provozierend zurück.
Der unwissende Jan kicherte plötzlich leise. Das gefiel dem Burschen am Fenster nicht. Er versetzte dem unwissenden Jan einen ziemlich heftigen Tritt. Dieser stöhnte vor Schmerzen.
»Schluss damit!«, fuhr ihn Naham an. »Du solltest dir deine Kräfte und die Wut für diese beiden Gestalten dort draussen aufsparen. Wir werden nun gehen und diese Typen zum Teufel jagen. Noch ist diese Umgebung, der Wald und der Sumpf unsere Heimat und unser Zuhause.«
Daraufhin gab er dem anderen Burschen ein Handzeichen, dass dieser ihm folgen sollte.
»Bina, du bleibst hier. Wenn du etwas mit dieser Teufelei zu tun haben solltest, auch wenn es nur eine Winzigkeit sein sollte, dann werden wir im Dorf davon berichten. Da kannst du sicher sein. Man wird ganz offene Ohren dafür haben, wenn du hier dunkle Künste ausübst.«, meinte er forsch zu Bina.
Dann öffnete er die Tür und ging hinaus zu den beiden Männern.
Seine zwei Freunde aus dem Dorf, sie folgten ihm, wenn auch nur zögernd.
Es war ihnen deutlich ihre Furcht in die Gesichter geschrieben.
Marsha lief zum Fenster. Sie wollte sehen, was geschah.
Naham stand vor den beiden Männern. Seine beiden Freunde waren direkt hinter ihm.
Die Männer unterhielten sich.
Bina konnte kaum etwas verstehen.
Doch plötzlich schlug Naham jenem der Männer, der sich nicht Lorgam nannte, mit der Faust ins Gesicht.
Es wurde laut vor dem Haus.
Bina konnte es hören.
Die beiden Burschen aus dem Dorf feuerten Naham offenbar an.
Doch dann sah Lorgam den Sohn des Gastwirts ernst an und hob ruckartig seine rechte Hand und schrie laut auf. Naham wurde mit großer Kraft durch die Luft geschleudert, als wäre er von einer unsichtbaren Hand empor gehoben worden und landete krachend zwischen einigen alten Holzeimern.
Der niedergeschlagene Fremde war inzwischen auch wieder etwas zu sich gekommen und schrie die beiden Burschen aus dem Dorf an: »Jetzt reicht es! Geht aus dem Weg. Dann holen uns diesen Mistkerl eben mit Gewalt!«
Bina war ganz aufgeregt. Sie hatte Angst.
Mit der Armbrust konnte sie sich nicht gegen diese Männer wehren.
Sie beherrschten offenbar eine Art mächtige Magie.
Plötzlich schoss es ihr in den Kopf: Nein, vielleicht war es Xyralum.
Diese beiden Männer, sie konnten das Xyralum augenscheinlich ebenso kontrollieren, wie ihr geliebter Jan es gekonnt hatte. Er hatte es ihr kurz vor seinem Verschwinden vorgeführt. Diese beiden unbekannten Angreifer, sie waren offenbar auch Xyrale. Bina war sofort klar, dass sie den unwissenden Jan schützen musste. Die Bedrohung von der ihr geliebter Jan damals gesprochen hatte, sie war nun hier angekommen. Sie wusste, dass diese abtrünnigen Xyrale nichts Gutes im Sinn hatten und jetzt auch ihre Welt entdeckt hatten.
Das Erdäum Lapilla, so hatte Jan damals ihre Welt genannt, war nun ebenfalls in Gefahr.
Geschrei riss Bina aus ihren Gedanken.
Offenbar versuchten die drei Burschen aus dem Dorf sich zu verteidigen.
Ihr blieb wohl nicht mehr viel Zeit. Doch was sollte sie tun?
Ängstlich schaute sie wieder aus dem Fenster. Immer wieder gingen die Männer aufeinander los. Doch im Gegensatz zu den drei Burschen aus dem Dorf, die bereits verletzt waren und bluteten, lachten die beiden Xyrale nur über sie.
»He, interessiert dich das alles überhaupt nicht? Immerhin geht hier um deinen Hals.«, rief Bina dem unwissenden Jan zu, der noch immer teilnahmslos auf dem Boden kauerte.
Doch der Mann reagierte nicht auf die Frage. Offenbar war ihm die Gefahr nicht bewusst oder er unterschätzte sie.
»Was für ein Irrsinn.«, flüsterte Bina zu sich selbst, wandte sich dann wieder dem Fenster zu.
Dieser Lorgam näherte sich immer weiter der Tür.
Schon bald würde er sie öffnen und im Haus sein.
Bina musste etwas unternehmen.
Doch was sollte sie schon gegen diese Fremden ausrichten?
Sie lief zu dem Fenster auf der Rückseite und öffnete es. Dann forderte sie den unwissenden Jan auf, ihr zu folgen. Sie wollte aus dem Fenster entkommen, so lange die beiden feindlichen Xyrale noch mit den drei Burschen beschäftigt waren. Doch der unwissende Jan reagierte nicht auf sie. So versuchte sie, ihn auf die Beine zu bekommen und zog ihn mit zum Fenster. Sie schob ihn hindurch und gab ihm einen wuchtigen Hieb, so dass er auf der anderen Seite hinunter fiel. Dann hörte sie ein Krachen an der Tür. Sie kletterte durch das Fenster ins Freie und schloss das Fenster hinter sich. Als sie sich umdrehte, um nach dem unwissenden Jan zu sehen, torkelte er einfach zwischen den Bäumen umher.
Plötzlich kamen von allen Seiten Männer herbei, die ihn umringten. Sie hatten ihn wohl im Wald bereits erwartet. Waren das auch alles Xyrale?
Bina rannte los, um den unwissenden Jan helfen zu können.
Doch dieser lies sich von den Männern widerstandslos gefangen nehmen.
Dann hatten zwei der Männer Bina entdeckt und kamen auf sie zu. Als sie direkt vor ihr standen, schlug sie einem der Männer mitten in das Gesicht. Doch ihre Faust traf ins Leere. Diese Männer waren eine Art Projektion. Es waren fünf ambalosische Agenten. Nur mit Hilfe des Xyralums konnte man etwas gegen sie ausrichten, da sie eine Sache des Bewusstsein waren. Sie waren eigentlich nicht wirklich im Erdäum Lapilla, da die Angreifer sonst verletzbar gewesen wären. Wären die ambalosischen Agenten mit Haut und Haaren vor Ort, dann hätten sie die Persönlichkeiten von Menschen dieses Erdäums verdrängt und deren Körper in Besitz genommen. Bina wusste davon jedoch nichts. So eine Verdrängung kannte sie nur von ihrem Jan. Diese ambalosischen Agenten jedoch, die waren ihr völlig unbekannt. Sie hatte nur furchtbare Angst. Daher liess sie sich widerstandslos von den Männern abführen. Es war die Sorge um den unwissenden Jan, die sie regelrecht lähmte. Würde ihm etwas geschehen, dann wäre ihrem geliebten Jan die Rückkehr zu ihr versperrt. Also brachten die Agenten den unwissenden Jan und Bina zu ihrem Haus.
Von den drei Burschen aus dem Dorf lebte inzwischen nur noch Naham.
Er lag stöhnend auf dem Boden. Seine beiden Freunde waren mit mehreren langen Holzkeilen regelrecht an zwei Bäume genagelt worden. Dort hingen sie leblos mit dem Kopf nach unten. Ihr Blut lief in dünnen Rinnsalen von den Fingern in den Sand.
Bei diesem Anblick wurde der unwissende Jan plötzlich laut. Er schrie hysterisch um Hilfe und versuchte in seiner Panik zu entkommen.
Doch bereits nach wenigen Metern stürzte er zu Boden, als wäre er von einer unsichtbaren Faust getroffen worden. Dann wurde er von der gleichen Kraft an seinen Füßen gepackt und zurück zu seinen Bewachern geschliffen.
Es war offenbar Lorgam, der das Xyralum zu diesen Zwecken eingesetzt hatte. Er wirkte auf Bina ein wenig abwesend.
»Warum habt ihr beiden miesen Schweine die jungen Kerle töten müssen? War das nötig? Sie waren doch noch halbe Kinder.«, klagte Bina den anderen Xyral an, dessen Name sie nicht kannte. Dabei sah sie ihn wütend an.
»Du solltest deine Zunge hüten, Hexe. So kann es sonst gut sein, dass du den beiden Kerlen bald Gesellschaft leisten wirst.«, gab dieser seltsam leise zurück.
Die ambalosischen Agenten schwiegen.
Es war schon merkwürdig. Manchmal meinte Bina zu sehen, dass die Sonne ein wenig durch diese Agenten hindurch scheinen würde.
»Was seid ihr nur für böse Geister. Aus welcher Hölle seid ihr nur entsprungen?«, giftete sie die fünf Agenten an.
Die sahen sie allerdings nur teilnahmslos an.
»Nehmt alle mit in die Hütte. Die Schatten werden bald hier auftauchen. Seid wir diesen Biestern die Hundefresser erlaubt haben, sind sie mir einfach suspekt.«, meinte der Xyral zu den ambalosischen Agenten.
Lorgam lachte. »Ja, geht mir auch so, Talier? Es sind so unglaublich viele von denen geworden. Man kann denen einfach nicht trauen. Sie zu kontrollieren, das wird von Tag zu Tag schwieriger.«, erwiderte er.
Bina sah auf.
Der andere Xyral, er hieß also Talier.
Er schien ihr noch gefährlicher zu sein, als dieser eher schmächtige Lorgam.
Die Agenten brachten den verletzten Naham und den wimmernden Jan in das Haus. Danach folgten Bina, Lorgam und Talier. Die beiden Toten ließen sie einfach achtlos an den Bäumen hängen.
»Bindet den Xyral nur gut auf dem Stuhl fest. Die Hexe und der jungen Bauerntölpel, die sollen sich in der Ecke dort auf den Boden setzen und einfach nur schweigen. Sie sind nicht so wichtig. Wir müssen warten, bis der Xyral wieder in den Körper zurück kehrt. So war es der Wunsch von Ogun.«, meinte Talier, der wohl mehr zu sagen hatte, als dieser Lorgam.
Nachdem sie den unwissenden Jan auf dem Stuhl festgebunden hatten, forderten sie ihn auf, endlich mit seinem Gewimmer aufzuhören.
Als er nicht gehorchte, schlugen sie ihm so lange sein Gesicht, bis er es einsah, besser doch zu schweigen.
Dann wurde es ein wenig dunkler im Haus.
Offenbar waren Wolken vor die Sonne gezogen.
»Wer ist Ogun? Hat sie euch geschickt? Ist es ihr Wunsch, bei uns halbe Kinder zu töten?«, fauchte Bina Talier an.
»Ich habe dir doch gesagt, dass du schweigen sollst, widerwärtige Hexe.«, schrie er sie an.
Dann ging er zum Fenster.
Bina beobachtete ihn.
Sein Gesicht hellte sich auf. Dann kam er auf sie zu, zog sie unsanft am Arm hoch und schleuderte sie zum Fenster.
»Sieh‘ nur, Hexe. Wenn du nicht endlich schweigst, dann darfst du den beiden Taugenichtsen dort draussen auch gerne Gesellschaft leisten.«, meinte Talier zu ihr und grinste sie an.
Bina sah hinaus und erschrak. Es waren nicht die Wolken, die sich vor die Sonne geschoben hatten. Nein, es waren zahllos viele Umbrae Mortis, die inzwischen die gesamte Umgebung verdunkelten.
Bei den Leichen der Männer huschten immer wieder kleine Männer mit bleichen Gesichtern umher. Immer wieder griffen sie die beiden toten Körper an und verbissen sich in diese, nur um dann wieder von ihnen abzulassen.
Bina schrie entsetzt auf. Diese Kreaturen verschwanden im Schwarz der Schatten und tauchten aus diesen auch immer wieder willkürlich auf.
Bina bot sich ein unwirklicher und grausiger Anblick.
Schon bald rechnete sie damit, dass die Schatten in das Haus kamen.
Erst vor Stunden hatte sie das bereits erlebt.
Dann wurde sie erneut unsanft am Arm gepackt und wieder in die Ecke auf den Boden geworfen.
»So, ich hoffe, du begreifst endlich, dass wir es ernst meinen, Hexe. Noch ein Wort, und du wirst das Haus verlassen. Ist das klar?!«
Bina weinte nur und nickte einmal. Diesen furchterregenden Kreaturen wollte sie auf keinen Fall überlassen werden.
Der Tag neigte sich seinem Ende.
Entgegen Binas Befürchtungen war keiner der Schatten in das Haus gelangt. Dennoch verharrten sie in grosser Anzahl vor dem Haus.
Am Abend lösten sich die fünf ambalosischen Agenten einfach in Luft auf.
Offenbar kostete es sie eine Menge Energie, diese Form der Projektion aufrecht zu erhalten.
Bina hatte erfahren, dass sie aus dem Erdäum Kavitz kamen und diese Ogun offenbar so eine Art Anführerin dieser Männer war.
Ansonsten verbrachte sie ihre Zeit mit Untätigkeit.
Die Xyrale warteten beharrlich auf die Rückkehr von Binas Jan.
Doch wann Jan wiederkommen würde, das war ihnen völlig egal, wie es ihr schien.
Ihr Auftrag war es offenbar, einfach nur zu warten, wie lange es auch dauern würde.
Offenbar war Jan für diese Ogun wertvoll, und sie spielte mit dieser Aktion auf Sicherheit.
Doch woher hatte sie von Jans Reise und von Bina erfahren?
Es folgte eine lange Nacht.
Bina hatte Hunger und Durst.
Naham war zwar aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht, nahm aber kaum Notiz von dem, was um ihn herum geschah. Offenbar war er schwerer verletzt, als Bina es bisher angenommen hatte.
Aus einem Gespräch zwischen Lorgam und Talier hatte sie gehört, dass die ambalosischen Agenten am Morgen wiederkommen würden. Auch nahmen beide an, dass Ogun dann mit dabei sein würde.
Die beiden Xyralen machten ihre Witze über Ogun.
Sie hatte offenbar mehr Entscheidungsgewalt, als die beiden Xyrale, wurde aber offenbar nicht wirklich von ihnen respektiert. Sie war die Anführerin des ambalosischen Geheimdienstes, hatte aber nur bedingt etwas mit den feindlichen Xyralen zu tun.
Für Bina war das alles ziemlich verwirrend.
Seit sie sich in Jan verliebt hatte, war nichts mehr so, wie es früher war.
Sie war ständig in Gefahr und sah sich Mächten ausgesetzt, die sie nicht verstand.
Aber wie gefährlich diese ganzen Erlebnisse auch gewesen sein mochten, Bina spürte tief in sich, eine seltsame Vertrautheit mit dem Xyralum und dem universellen Konstrukt.
Sie konnte sich das nicht richtig erklären. Aber sie war offenbar das, was man im Allgemeinen eine Hexe nannte. Nicht ohne Grund sahen viele Kulturen eine Wächterin zwischen den Welten in ihr.
Kurz bevor die Morgendämmerung einsetzte, erschien im Wohnraum plötzlich eine seltsame, leuchtende Kugel. Sie war plötzlich einfach da und schwebte bewegungslos in der Luft.
Die Xyrale konnten mit dieser Kugel zunächst nichts anfangen.
Sie kannten dieses Phänomen offenbar nicht.
»Hexe, was ist das für eine Magie? Bist du für dieses Ding verantwortlich?«, fragte Talier sie. Seine Stimme klang ein wenig nervös.
Bina schüttelte nur mit dem Kopf. Sie war müde. Jeder ihrer Knochen, er schien zu schmerzen. Das Sitzen auf dem harten Boden bekam ihr nicht.
»Los, antworte mir! Kennst du dieses Leuchtding?«, herrschte Talier sie weiter an.
Von seiner Neugier angetrieben versuchte Lorgam inzwischen, die Kugel mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand zu berühren. Ganz vorsichtig und behutsam.
»Nein, ich weiss nicht was du willst, was es will und was das Ding ist. Hoffentlich bringt das Licht euch Unglück, ihr gefühllosen Bestien. Reicht dir das?!«, antwortete Bina wütend.
Doch inzwischen lag ihre Aufmerksamkeit ebenfalls ganz bei dieser leuchtenden Kugel. Wenn diese beiden Xyrale es nicht kannten, sie es ebenso nicht kannte, woher kam diese Kugel dann? In Bina keimte ein wenig die Hoffnung, dass diese Kugel vielleicht ein gutes Omen war.
»Lorgam, fasse das Ding lieber nicht an.«, meinte Talier.
»Das ist überhaupt nicht so einfach…«, erwiderte Lorgam ein wenig abwesend. Er staunte gerade darüber, das die Kugel immer just in dem Augenblick ein wenig zur Seite huschte, wenn er sie gerade mit dem Finger berühren wollte.
»Ein seltsames Ding ist das. Wir sollten vorsichtig sein. Die Hexe lügt uns bestimmt an. Diesem garstigen Hexenpack, dem kann man nicht trauen.«
»Ja, vielleicht sollte wir es einfach vor die Tür setzen. Unsere finsteren Freunde spielen gerne mit Energien dieser Art.«, knurrte Lorgam, dem es einfach nicht gelingen wollte, die leuchtende Erscheinung zu berühren.
»Du wirst das Xyralum nicht für so einen Unfug einsetzen. Es sind zu viele von diesen Biestern dort draussen. Sie sind jetzt schon reichlich schwer zu kontrollieren. Wir müssen bis zum Sonnenaufgang warten und die blöden Kavitzer das machen lassen. Die Ambalosis werden schon wissen, wie sie mit dem Ding umgehen sollen.«
Talier sah besorgt aus dem Fenster.
»Du hast vielleicht recht. Ich habe auch keine Lust, als Futter für die Umbrae Mortis zu enden.«, gab Lorgam zurück und liess von der leuchtenden Kugel ab.
Diese schwebte weiter völlig unbeeindruckt etwa einen Meter hoch in der Luft.
Der unwissende Jan schlief gefesselt auf seinem Stuhl.
Gegen Mitternacht wollte er austreten, was ihm die Xyrale jedoch verweigert hatten.
Sie wollten kein Risiko eingehen.
Danach hatte er sich einfach auf seinem Stuhl eingenässt und war wieder eingeschlafen.
Der Geruch war inzwischen kaum mehr erträglich, schien aber nur Bina zu stören.
Es war schon erstaunlich, wie sehr sich die beiden Jans unterschieden.
Der unwissende Jan war ein abstossender, recht primitiver Zeitgenosse, der mit ihrem geliebten Jan nichts gemeinsam hatte. Bina empfand nichts für diesen widerlichen Kerl, obwohl er genauso aussah, wie der Mann ihres Herzens. Es war verwirrend und faszinierend zugleich.
In der Zwischenzeit war Naham wieder ohne Bewusstsein. Er sass, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, auf dem Boden und hatte seinen Kopf auf die Brust gesenkt.
Bina fühlte sich unendlich alleine. Sie hatte Angst und empfand für die beiden Xyralen Verachtung.
Diese merkwürdige Licht, es war einfach nur da und tat nichts.
Was für einen Sinn hatte das alles nur?
Bina stöhnte leise. Der Schmerz ihrer Knochen war kaum mehr zum Aushalten. Sie hoffte nur, dass dieser Albtraum bald ein Ende finden würde.
Als das erste Licht der Sonne am Horizont zu erkennen war, da bewegte sich die Kugel plötzlich.
Die beiden Xyrale schreckten hoch.
Sie war etwas in die Höhe gestiegen und begann intensiver zu leuchten.
»Was geschieht hier?«, fragte Lorgam in den Raum hinein.
Doch die seltsame Kugel wurde immer heller und heller und leuchtete inzwischen das ganze Haus aus. Bina spürte plötzlich den starken Drang in sich, das Haus zu verlassen. Sie konnte es sich nicht erklären.
Doch auch die beiden Xyrale schienen diesen Drang zu verspüren, da sie sich langsam in Richtung Tür bewegten.
Bina versuchte gegen diesen Dran anzukämpfen, doch je mehr sie sich bemühte, desto stärker wurde er.
So schien es auch den Xyralen zu ergehen, da ihnen die Anstrengung deutlich in die Gesichter geschrieben stand.
Sie hatten inzwischen sogar bereits die Tür geöffnet.
Naham und der unwissende Jan bekamen von dem ganzen Vorfall nichts mit.
Beide waren ohne Bewusstsein.
Bina folgte den beiden feindlichen Xyralen und der leuchtenden Kugel hinaus, ins Freie.
Dort wurden sie bereits von den Umbrae Mortis und einem halben Dutzend hässlichen Hundewürgern erwartet. Die Xyrale hatten sie nicht mehr unter Kontrolle.
So fielen die Schatten unverzüglich über die beiden Männer her und saugten ihnen das gesamte Xyralum aus ihren Körpern. Doch die Männer schrien nicht einmal und klagten nicht, sondern lachten nur laut, als wären sie nicht mehr bei Sinnen.
Doch auch Bina war dem Einfluss der Kugel völlig ausgeliefert. Nur der Umstand, dass sie kein Xyral war, schien ihr Leben zu retten. Zwar näherten sich die Umbrae Mortis ihr immer wieder. Aber sie liessen sie weitgehenst in Ruhe.
Die Hundewürger jedoch, obwohl sie durch die beiden Leichen am Baum bereits beschäftigt waren, schienen langsam Interesse an ihr zu bekommen.
Auch wenn sie Bina nicht angreifen sollten, so würde bereits ein kleiner Biss zu einer Blutvergiftung führen. Fast alle derartigen Vergiftungen führten zu einem langsamen und qualvollen Tod. Bei jenen Opfern, die den Esgana Cãos für einen Angriff zu gross waren, hatte sich daher diese perfide Methode der Jagd bereits immer wieder bewährt.
Die Hundewürger warteten dann einfach ab. Waren die armen Opfer schliesslich, krank, schwach und hilflos, nährten sie sich an ihren noch lebenden Körpern.
So ein schreckliches Schicksal deutete sich nun auch für Bina an.
Die inzwischen bewusstlosen Xyrale hingegen, die würde voraussichtlich in wenigen Augenblicken ein weniger qualvoller Tod ereilen.
Bina war in Todesangst. Diese grässlichen Kreaturen kamen immer näher.
Sie konnte sich nicht gegen den Einfluss der hellen Kugel wehren und kniete inzwischen auf dem Boden. Regungslos und unfähig sich zu bewegen starrte sie die Hundewürger mit ihren weit geöffneten Augen an.
Diese gierigen Teufel näherten sich beständig und stiessen dabei lallende Laute aus.
Deren Sinn verstand Bina nicht und ob sie einen Sinn ergaben, war nicht zu erahnen.
Tränen der Verzweiflung und der Anstrengung liefen ihr durch das Gesicht.
Ihr Atem ging stossweise, und in ihrer Brust hämmerte ihr Herz, dass es sie fast schmerzte.
Inzwischen waren die beiden Xyrale von den Umbrae Mortis getötet worden. Die Schatten liessen die leblosen Körper einfach achtlos auf dem Boden liegen und entfernten sich. Sie hatten bekommen, was sie wollten und sich an dem Xyralum genährt.
Auf einmal waren es die Esgana Cãos, die plötzlich Interesse an den beiden frischen Leichen zeigten. Sie wandten sich von Bina ab und fielen über die beiden getöteten Xyrale her. Sie rissen bei ihnen zuerst die weichen Fleischteile heraus und schluckten diese gierig herunter. Dabei sahen sie ein wenig wie langhalsige Wasservögel aus, die gierig kleine Fische herunter würgten. Dieser penetrant saure Geruch, der diese Ungeheuer umgab, er liess Bina würgen. Ihr war völlig klar, dass die beiden toten Xyrale für sie nur einen zeitlichen Aufschub bedeuteten, sollte es ihr nicht gelingen, wieder in das Haus zu gelangen.
Doch der Einfluss der hellen Kugel in der Luft, er liess einfach nicht nach. Es war einfach zum Verzweifeln. Der Anblick der fressenden Hundewürger, er war unerträglich. Bina spürte in sich das Verlangen, endlich ohnmächtig zu werden. Sie wollte nicht miterleben, wie diese Kreaturen sie bei lebendigem Leib auffrassen.
Doch was war das? Sie hörte die schwache Stimme von Jan aus dem Haus.
»Bina? Bina, wo bist du?«
Bina war sofort wieder hellwach.
»Jan, hier bin ich! Hier draussen! Schnell, hilf mir, diese Monster werden gleich über mich her fallen!«, antwortete Bina.
War das möglich?
War ihr geliebter Jan zurück gekehrt?
Wenn dem so war, so wusste sie Jan in großer Gefahr. Überall waren Feinde und trachteten ihm nach dem Leben. Die ambalosischen Agenten konnten jeden Augenblick wieder im Haus auftauchen. Zudem war es wahrscheinlich, das mit ihnen sogar diese ominöse Ogun erscheinen würde. Hier draussen waren Hundewürger und gierige Schatten. Es war definitiv nicht der beste Zeitpunkt für eine Heimkehr.
Dann hörte Bina ein lautes Krachen im Haus.
Jan war offenbar mit dem Stuhl umgekippt und hatte seine Beine aus der Fessel gelöst. Bald schon würde er sich von dem Stuhl und den restlichen Fesseln befreit haben. Jedenfalls hoffte die bemitleidenswerte Bina das, da diese blutrünstigen Kreaturen inzwischen ihre Aufmerksamkeit wieder ganz auf sie gerichtet hatten.
»Bina, halte aus. Ich bin gleich bei dir!«, rief ihr Jan zu.
Ein erneutes Krachen verriet ihr, dass er den alten Stuhl offenbar zertrümmert hatte.
»Schnell, Jan, sie kommen!«, schrie Bina verzweifelt.
Es waren nur noch wenige Meter, die sie von den Esgana Cãos trennte.
Diese blassen Gestalten waren völlig mit dem Blut der Toten beschmiert.
In Binas Gesicht stand das blanke Entsetzen geschrieben, als sie die extrem spitzen Zahnreihen der Hundewürger sah.
Dann stand plötzlich Jan in der Tür und sah die helle Kugel.
Sofort liess bei Bina der innere Zwang, vor dem Haus zu verharren, nach.
Offensichtlich nahm Jan Einfluss auf die Wirkung dieser Kugel. Ohne auch nur einen weiteren Augenblick zu zögern, rannte Bina zum Haus und zu ihrem Jan, um den Hundewürgern zu entkommen.
Jan schloss die Tür hinter ihr und nahm sie in seine Arme.
»Wo warst du nur, Jan? Wo warst du nur so lange?«, schluchzte sie und weinte.
Ihr geliebter Jan war zurück gekehrt. Sie spürte deutlich seine Präsenz und seine Liebe. Es war ein seltsames Gefühl, in die Arme jenen Mannes zu fallen, den man noch kurz zuvor so sehr gehasst hatte. Doch es war wirklich ihr Jan. Ihr Jan war wieder zurück gekehrt und hatte den unwissenden Jan verdrängt.
»Jetzt bin ich ja wieder da, Bina. Ich konnte doch nicht wissen, dass sie hier nach mir suchen würden.«, meinte Jan und streichelte ihr liebevoll über das Haar.
Er beobachtete, wie das Licht der Hoffnung durch die Tür schwebte, als wäre diese überhaupt nicht vorhanden. Die Esgana Cãos begnügten sich offenbar wieder mit den Leichen vor dem Haus.
»Wir müssen fliehen, Jan. Diese ambalosischen Agenten können jeden Augenblick hier erscheinen. Ich weiss nicht, wie gefährlich sie dir werden können. Sie suchen dich und haben es auf dich abgesehen.«, sagte Bina und drückte Jan sanft von sich.
»Was ist mit dem jungen Kerl dort?«, wollte Jan wissen und deutete auf Naham, der noch immer bewusstlos auf dem Boden lag.
»Das ist einer der Jungs aus dem Dorf. De beiden anderen sind jene, deren Überreste draußen an den Bäumen hängen. Sie haben mich vor dem unwissenden Jan gerettet, als dieser seine Gier bei mir zu befriedigen versuchte.«
»Er ist verletzt. Wir müssen ihm helfen. In das Dorf werden wir ihn jedoch nicht bringen können. Er wird den Bewohnern dort erzählen, was sich hier zugetragen hat. Dann werden sie uns ebenfalls jagen. Sie werden uns für Dämonen halten.«
»Doch wo sollen wir nur hin? Entweder es sind diese Schatten, die ambalosischen Agenten, die feindlichen Xyrale oder die verängstigten Menschen, alle werden sie uns jagen. Dabei verstehe ich nicht einmal richtig, warum und weswegen sie uns hassen.«
Bina war verzweifelt. Sie war völlig fertig und fühlte sich vollkommen ausgelaugt.
»Daher werden wir nicht fliehen. Ich habe nicht vor, ihnen diesen Brückenkopf in Lapilla zu überlassen. Wir werden unseren Feinden entgegentreten, und wir werden es hier im Erdäum Lapilla in deinem Haus tun, Bina. Wir werden sie mit Hilfe des Lichts der Hoffnung und mit deiner Kraft in die Flucht schlagen. Ich darf das Xyralum nicht einsetzen. Würde ich es einsetzen, so kämen die Umbrae Mortis rasch wieder zurück und mit ihnen viele weitere Hundewürger. Das sie diese Esgana Cãos überhaupt mit sich führen, das ist erschreckend. Seit Ewigkeiten wurden diese Hundewürger in den mir bekannten Erdäen nicht mehr gesehen. Sie sind mit Sicherheit ein Werk der Xyrale der Förderation. Nur so kann ich mir ihre Anwesenheit erklären.«, erklärte Jan, als er sich Naham gerade etwas genauer ansah.
»Jan, schau, da sind sie!«, rief Bina ihm entsetzt zu. Jan sah auf und erkannte, wie fünf Gestalten mitten im Raum langsam Gestalt annahmen.
»Bina, finde einen geistigen Weg zu diesen Agenten. Du kannst das. Ich weiss, dass du es kannst, da du die Gabe für so etwas hast. Du musst nur an dich glauben. Finde einen Weg zu ihnen. Dann bekämpfe und vernichte jeden Gedanken an sie. Das Licht der Hoffnung wird dir beistehen und sie glauben lassen, Lapilla wäre auf wundersame Weise verschwunden.«, rief Jan Bina zu und wies auf die leuchtende Kugel, die wieder etwa einen Meter in der Luft schwebte.
»Das kann aber nur funktionieren, wenn du jeglichen Gedanken an sie vernichtest. Naham ist ohne Bewusstsein. Er wird für sie nicht wahrnehmbar sein. Sie werden nach einen Bezug suchen, um Lapilla zu finden. Du darfst ihnen keinen Halt geben.«
Jan konnte sehen, wie sich Bina konzentrierte. Sie war extrem angespannt. Die fünf Gestalten hatten erkennbar Schwierigkeiten, sich zu materialisieren.
Das Licht der Hoffnung begann jedoch plötzlich zu flackern.
Offenbar war seine Energie fast erschöpft.
Das Haus der Vernunft hatte dieses Licht der Hoffnung offenbar zum Schutz an seine Seite gestellt. Die Feindseligkeit bei seiner Rückkehr im Erdäum Lapilla, sie war jedoch nicht zu unterschätzen.
Offenbar war Ogun tatsächlich bei diesen Agenten und brachte mit ihrer Macht, das Licht der Hoffnung zum Wanken.
Jan wollte helfen. Doch er konnte das Xyralum nicht einsetzen, ohne damit seine Mission in Gefahr zu bringen. Es war das letzte Mittel, das er einsetzen würde.
Bina war inzwischen auf ihre Knie gesunken. Ihre Augen waren weit aufgerissen.
An ihren Schläfen traten kleine Adern hervor. So gross war die Anstrengung. Doch ihre Mühe zahlte sich offenbar aus. Die Konturen der fünf Gestalten wurden immer undeutlicher. Sie schafften es nicht, sich zu materialisieren. Es war nur noch eine Frage von Augenblicken, bis die fünf ambalosischen Agenten an dem Erdäum Lapilla vorbei gezogen waren. In dem Nebel der Erdäen würden sie es nicht so schnell wiederfinden können. Da war sich Jan ziemlich sicher. Immerhin hatte er eine weite Reise im Nebel der Erdäen frisch hinter sich und wusste, wie schwierig es dort war, zu navigieren. Auch war er ein erfahrener Xyral und die Kavitzer nur eine hoch entwickelte Kultur.
Jan hielt eine Sekunde inne. Was war das?
Es war eine Spur Hochmut in seinen Gedanken, den er nie zuvor bemerkt hatte. Hatte das neu erworbene Wissen bereits damit begonnen, ihn moralisch zu verderben?
Inzwischen waren die Gestalten verschwunden.
Bina fiel nach vorne auf den Boden. Sie war völlig entkräftet.
Jan hob sie auf und trug zu ihrem Bett, um sie dort sanft abzulegen. Er war in Sorge um sie. Es war alles sehr viel für sie gewesen. Er reichte ihr einen Becher mit Wasser und half ihr beim Trinken.
»Ich werde dir alles erklären. Doch wir müssen erst einmal hier ein wenig zur Ruhe finden. Du solltest etwas schlafen, Bina. Ich werde mich um alles kümmern. Vertraue mir. «, flüsterte er ihr zu und gab ihr einen liebevollen Kuss auf die Stirn.
Doch sie hatte ihn schon nicht mehr gehört. Bina war eingeschlafen.
Jan ging an das Fenster und sah hinaus.
Es war dort nur noch ein Hundewürger zu sehen.
Jan wusste nur zu gut, dass sie sich nie zu weit von den Umbrae Mortis entfernten.
Da die Schatten inzwischen weg waren, folgten ihnen nun auch die Hundewürger.
Sie waren von einander abhängig.
Jan wandte sich nun dem verletzten Naham zu. Er hatte sich offenbar eine Rippe gebrochen und hatte viele Prellungen aus dem Kampf davon getragen.
Die jungen Leute steckten heute kaum mehr etwas weg, so dachte sich Jan und legte Naham bequem auf den Boden und deckte ihn zu.
Nach einigen Stunden Schlaf würden Bina und er wieder auf den Beinen sein.
Das war auch wichtig. Denn es gab viel zu tun.
Autor: © Alexander Rossa 2024