Wie feines Haar, so fächern sich die ersten Strahlen der Sonne über den Wipfeln der Bäume auf. Als würden sie den Wald sanft aus dem Schlaf streicheln wollen, wandern sie gemächlich über zahllose Blätter und Nadeln. Die Schatten und die Kälte der Nacht, beide weichen dem Licht und der wohligen Wärme des Morgens. Sie lösen behutsam die Nebelschleier auf und fordern das Recht des Tages ein. Aber dennoch sind sie nur ein sanftes Schimmern in der Dunkelheit. Sie scheinen mir an diesem Morgen, als wären sie die Ruder einer Barke des Lichts, die auf den Wellen des Meeres einer ewigen Finsternis schaukelt. Des Menschen Herkunft ist die Dunkelheit. Auch enden die Menschen wieder in ihr. So sind wir nur Reisende auf diesem einsamen Schimmernachen. Eine kurze Überfahrt ist unsere Bestimmung. Wie die Motten vom hellen Schein angelockt und der schieren Neugier erlegen, so folgen wir dem Reiz des Widersinns. Ungemein entzückend und betörend schön, so erscheint uns das Licht, auf dessen glanzvollen Strahlenplanken wir mit Überzeugung gemeinsam die Finsternis verdammen. Wir fürchten viel zu sehr jenen Zustand, aus dem wir geboren wurden. Unsere kindliche Unbekümmertheit, sie ist nahezu vollkommen erloschen. Finstere Fluten und Kälte zehren an uns. Irgendwann werden wir alle in der Farbloskeit des Ungewissen anlanden. Wir werden das Licht verlassen und in eine endlose Nacht aufbrechen. Dann wird für uns plötzlich zu erkennen sein, daß wieder einmal nicht mehr und nicht weniger, als nur ein einziger weiterer Sonnentag vergangen ist. Es wird ebenso ein Tag sein, wie der gestrige es war und wie der morgige es auch sein wird. Erneut werden wir mit verklärtem Blick die hauchdünne Blauschicht des Himmels bewundern, hinter der uns die endlose Schwärze des Alls erwartet.
Man hat uns Menschen nur einen winzigen Augenblick vom Sein geschenkt, den wir als unsere Ewigkeit verstehen. Die Zeit ist ein faszinierendes Phänomen. Sie gleicht ein wenig der Strömung in einem uferlosen Meer, mit der wir uns einfach treiben lassen. Gibt es kein Ufer, so erscheint es natürlich uns sinnlos, mit dem Schwimmen zu beginnen. Welche Richtung sollten wir dabei auch einschlagen? Wohin sollten wir uns bemühen, wenn es kein Wohin gibt? Vielleicht wäre es gut, wir würden uns daher mit dem Tauchen befassen. Tauchen wir in die Tiefen dieses Meeres, irgendwann wird es uns vielleicht möglich sein, den Meeresgrund zu erreichen. Sehr viele Generationen später werden wir uns möglicherweise angepasst haben. Wir werden unter Wasser leben können. Uns werden vielleicht sogar Kiemen wachsen, auf das wir damit keinerlei Ufer mehr benötigen. Wir erschaffen uns ein neues Wohin und vertrauen auf die Natur. Dieses neue Wohin, es ist überall. Wir haben endlich die Zwänge der Zeit überwunden, wenn wir es gelernt haben, sie für uns zu nutzen und uns an ihre Bedingungen anzupassen. Die Zeit einfach über sich ergehen zu lassen und sie tatenlos mit offenen Mündern zu bestaunen, das erscheint mir einfältig und obszön.
An diesem Morgen in freier Umgebung erfahre ich Latisha. Latisha steht für Wahrheit in ihrer reinsten Form. Ich erlebe Stille in mir. Sie ist der Ort, an dem mein Ich die Wahrheit erfährt. Latisha ist nicht begreifbar. Nur eine sonore Wortkreation ist sie für etwas, das man nicht sehen und nicht hören kann. Sie ist auch nicht schmeckbar. Wahrheit bewirkt Ruhe und vollkommenen Frieden. Sie erschafft einen Raum ohne Fragen. Latisha löst Rastlosigkeit auf. Hektik und Sehnsüchte verschwinden. Jedoch der Rest von mir, er steht in unsichtbaren Flammen. Nur wo die Wahrheit ist, dort kann nichts brennen. Sie ist wie das stille Auge eines Wirbelsturms. Als Ruhepol erfährt man sie. Meine ganze Aufmerksamkeit zieht sie auf sich. In mir ist alles auf sie fokussiert. Das Getöse der Welt, es packt mich. Es zerrt und reißt an mir. Doch die Stille der Wahrheit, sie verstärkt den Lärm des Alltags. Durch sie wird er zu einer Qual. Ein stürmischer Höllentrichter mit tosenden Wänden aus Wünschen, Sehnsüchten und Glauben manifestiert sich um die Stille der Wahrheit. Jedoch tief in mir, da ist sie von allem unbeeindruckt, diese Wahrheit. Sie ist fürwahr das Auge eines Wirbelsturms in mir.
Die vollkommene Stille, dieser Ort der ewigen Rast, er offenbart Latishas Präsenz. Wahrheit ist eine schier unermeßliche Kraft in einem Raum voller Glauben und Ahnung. Er ist ein Ort, zu dem ich gehöre und in dem ich sein werde. Latishas Nähe suche ich. Im Sturm des Alltags ihre Nähe zu erhalten, Latisha ganz nahe zu sein, das kostet Kraft. Beharrlich danach zu streben, das laugt mich aus. Sie ist der am eigenen Leib erfahrene Gott, der jeden Glauben unnötig werden läßt. So bin ich nicht mehr in der Lage, auch nur irgendeinen Gott zu begreifen. Doch ich kann ihm begegnen und seinen Schatten bemerken. Er offenbart sich mir, als nur eine vage Ahnung. Mein Gott, er ist Wahrheit. Er ist das offenbarte Echte. Seine Spuren haben sich kraftvoll in meinen Verstand gedrückt.
So habe ich gesehen, was nur wenige Menschen zu sehen bekommen. Ich haben mit Körper und Seele Unglaubliches erfahren. Dieses Wesen Gottes, es hat mich berührt. Ja, so kann ich es beschreiben. Wahrheit habe ich erfahren. Seine Spuren liegen unverwüstlich auf meinem Verstand. Ich erlebe sie bei jedem Atemzug und jedem spontanen Lebenskrampf meines Herzens. Ein Grund zur Freude sollten diese Spuren wohl sein. Nur sie sind es leider nicht. Sie verändern den Fluß meines Lebens. Das ist kein Wunder. Der Sturm in mir, er fordert Veränderungen im Haushalt meiner Kräfte. Er beeinflußt dauerhaft meine Aufmerksamkeit. Diese Hinterlassenschaften, sie kann man nicht verdrängen. Es ist nicht möglich, sie zu ignorieren. Den Gesetzen der Natur folge ich, weil ich nicht anders kann. Der Fuß eines Riesen im weichen Flußbett, er fordert vom Wasser, das Streben nach einer Umgestaltung. Das wird sie wohl sein, meine persönliche Evolution. Doch die Menschen um mich herum, sie verstehen das nicht. Sie glauben nicht an den Riesen, nicht einmal an Zwerge. Im Getöse des Alltags lassen sie sich von der Strömung ihres Lebens einfach treiben, als wären sie Korken. Materielle Freuden, scheinbare Hoffnung und das Fundament des Glaubens, alles das ist nur Treibgut im Meer des Lebens, an das man sich klammern kann. Doch zur wirklichen Zufriedenheit, dorthin führt das alles nicht.
Dieser junge Tag, er hält viele Wahrheiten für mich bereit. Ich bewundere Flora und Fauna, den süßen Duft und die weichen Klänge des frühen Waldes. Sie alle sind ein Indiz auf Latishas Präsenz. Meinen Durst stille ich am nahen Bachlauf. Auch an diesem Morgen ist das Wasser wunderbar klar und kühl. Es ist zufriedenes Wasser. Jedoch Wasser hart in Rohre gezwungen, aufgebraust und mit Laugen gequält, es ist gestresstes Wasser. Wir Menschen behandeln Wasser, als wäre es eine tote Sache oder Nutzending. Dabei ist Wasser so viel mehr. Wir Menschen bestehen aus Wasser. Es ist für uns einfach alles, auf diesem Planeten. Jedoch achten und beachten wir es kaum. Uns fehlt es an gebührendem Respekt. Wir haben unser Wasser nicht einmal umfassend erforscht. Dabei ist es so viel mehr, als nur eine tote, klare Flüssigkeit. Wenn wir Wasser schlecht und respektlos behandeln, so behandeln wir uns damit auch selbst schlecht. Es trägt jede Information in uns hinein, wenn wir es zulassen und begreifen wollen. Fast alles ist durch Wasser und Feuschtigkeit miteinander verbunden. Wasser teilt mit. Nur haben wir vergessen, mit unseren inneren Ohren, auf seine Stimme zu hören. Wasser allerdings, es vergißt niemals. Es gibt heute nur noch wenige Menschen, die so sensibel sind und Wasser als ein Medium zur Anderswelt ehren. Die meisten Menschen der Überflußgesellschaften, sie wissen das Wasser einfach nicht zu schätzen. So erfrische ich mich an diesem Morgen vorzüglich mit Wasser. Danach verspüre ich Hunger, suche nach Beeren und einigen Kräutern, die ich gut kenne. Ich finde nicht viel, aber es schmeckt gut. Dann erleichtere ich mich. Wenn ich in meiner Wohnung bin, dann schließe ich immer das Badezimmer ab. Auch wenn ich alleine bin, verschließe ich dennoch die Tür. Doch hier im Wald, da hat sich mein Schamgefühl vollkommen aufgelöst. Ganz seltsam ist das. Mir ist es hier völlig unwichtig, daß keine Tür vorhanden ist.
Einige Zeit später begebe ich mich ein wenig weiter in den Wald hinein. In der Ferne höre ich einen Specht. Schon seit langer Zeit habe ich mich nach diesem Geräusch gesehnt. Ich freue mich. Wie bereits auch gestern schon, so spaziere ich auch heute wieder schuhlos durch das dichte Gehölz. An dieses intensive Gefühl an meinen Füßen gewöhne ich mich immer mehr. Auch liegt heute wieder dieses leise Brummen in der Luft. Die Insekten sind bereits seit den ersten Sonnenstrahlen unterwegs, um ihrem emsigen Leben nachzugehen. Kaum mehr denke ich über das seltsame Erlebnis der letzten Nacht nach. Ein sehr seltsamer Traum war das jedoch schon, der mich da heimgesucht hat. Erst als mich ganz plötzlich und unerwartet dieses unheimliche Gefühl beschleicht, beobachtet zu werden, erinnere ich mich sofort. Ich bin mir nicht sicher, was es ist, aber ich bin definitiv nicht mehr alleine. Instinktiv sind meine Sinne sofort hellwach. Treffe ich hier im Wald womöglich auf Menschen? Etwas Schlimmeres kann mir nicht vorstellen. Menschen wären mir an diesem Morgen ein übler Fluch.
Doch da ist tatsächlich etwas. Ich kann es kaum wahrnehmen. Mehr ein Gefühl ist es nur, das in mir um Aufmerksamkeit buhlt. Es ist störend, eine leichte Diskordanz in der Harmonie. Ohne etwas zu erkennen und keinesfalls von mir gestattet, dringt dieses Etwas in meine Intimsphäre ein. In dieser natürlichen Freiheit, da fühle ich mich aus der Ferne unangenehm berührt. Meine Haut zieht sich etwas zusammen. Ein kühler Schauer läuft mir über den Rücken. Das regt mich auf. Ein Empfinden von Wut etabliert sich langsam in mir. Meine Blicke wandern durch den Wald, mustern jeden Stamm und jeden Busch. Mein Atem geht schneller. Auf meiner Stirn bildet sich ein dünner Film aus Schweiß. Doch es ist einfach nichts Auffälliges oder Ungewöhnliches zu erkennen. Alles ist friedlich, wäre da eben nur nicht dieses beklemmende Gefühl. Vorsichtig bewege ich mich weiter durch den Wald. Ich hoffe auf damit, diesem Angriff auf meinen neu entdeckten Frieden entfliehen zu können. Ganz ohne Hast, völlig ruhig und konzentriert, so streife ich durch den Wald. Der Schweiß auf meiner Stirn, er wird allmählich unangenehm kalt. Immer tiefer in den Wald treibt es mich hinein.
Nach einiger Zeit verliert sich allmählich das bedrohliche Gefühl. Ich verspüre etwas Erleichterung. Dennoch folge ich weiter dem Pfad, um ganz sicher zu gehen. Erst nach einer ganzen Weile werde ich dann doch langsamer. Aufmerksam lausche ich in das Gehölz hinein und sehe mich konzentriert um. Nein, da ist nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Das Gehölz ist wieder so friedlich und schön, wie es zuvor war und so, wie ich es mir wünsche. Zufrieden bin ich nun sehr, daß ich keinem Menschen begegnet bin. Sie sollen mir nur fern bleiben. Ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas aufrichtig Gutes durch Menschen erfahren zu haben. Doch man mag es kaum glauben, auch so einer wie ich es bin, der hat wahre Freundschaft erleben dürfen. Allerdings war sie tierischer Natur. Mit Tieren habe ich zwar noch nie ein persönliches Wort gewechselt, aber dennoch sind sie mir innige Vertraute im Herzen. Wie dem auch sei, ich habe mich von dem quälenden Gefühl der Beobachtung endlich befreien können.
Nun stehe ich hier an einer bunten Blumenwiese, mitten im dichten Wald. Es handelt sich um eine Lichtung zwischen den Bäumen, welche durch die Sonnenstrahlen hell erleuchtet ist. Mir sehr zerbrechlich erscheinende Schmetterlinge tanzen über bunten Blüten. Sie sehen prachtvoll aus und stehen den farbenfrohen Blüten der vielen Blumen in nichts nach. Man könnte fast annehmen, diese sanften Sommervögel tauschen mit den schönen Pflanzen Zärtlichkeiten aus. Es ist wundervoll, ihnen dabei zusehen zu können. Ich bin nun doch sehr froh, daß es mich an diesen hellen Ort verschlagen hat. Ich blicke zum Himmel hinauf. Eine Herde kleiner Wolkenschäfchen schwebt geräuschlos über die blaue Himmelsweide. Hier finde ich sie rasch wieder, die wohltuende Nähe zur begehrten Freiheit. Es ist ein Ort jenseits der vom Menschen geschaffenen Realität. Natürliche und unverfälschte Friedlichkeit, sie ist ein Garant meines Glücks. Blätter, Rinden und Beeren ergeben für mich nun ein kleines Zwischenmahl. Obschon es ein wenig karg anmutet, es schmeckt mir angenehm, und es nährt mich gut. Zufrieden sitze ich danach an einem Baum und atme. Ich gebe mich einfach der Lust hin, die frische Waldluft in meine Lungen zu saugen. Sie zu riechen, zu schmecken, ihre Frische zu spüren, alles das, es ist eine echte Wonne.
Die Zeit vergeht. Eigentlich ist sein nur ein beiläufiges Rauschen. Sie verbraucht sich jedoch nicht wirklich. Es ist kein Verlust, um den ich fürchten muß. In der Ferne höre ich den Schrei eines roten Milans. Dieser prachtvolle Vogel, er kreist ganz in der Nähe seine Bahnen in der Luft. Dort muß es wohl Felder und Wiesen geben die er nutzt, um zu jagen. Offenbar habe ich schon bald, eine der Grenzen dieses Waldes erreicht. Ein Verlassen dieser neuen Heimstatt jedoch, das liegt mir fern. Daher denke ich darüber nach, wie es wohl nun für mich weitergehen wird. Wo soll ich nur hin? Offenbar sind Örtlichkeiten sehr rar geworden, in denen man Menschen und ihrem Lärm fern sein kann. Überall haben sie sich ausgebreitet, um ihre Herrschaft und ihre Dominanz anzuzeigen. Nur wenige Orte scheinen frei von menschlichem Frevel und Unrat zu sein.
Dann schrecke ich plötzlich hoch. Wieder ist es da. Dieses beklemmende Gefühl ist wieder in mir. Ich fluche wortlos. Irgendetwas beobachtet mich. Es hat mich tatsächlich verfolgt, aufgespürt und gefunden. Mein Blutdruck steigt an. Die Atmung geht schneller. Ich sehe mich um, suche angespannt die Umgebung ab. Wieder ist nichts zu erkennen. Die Schmetterlinge flattern nahezu lautlos, von Blüte zu Blüte. Sie scheinen diesen reifen Sonnentag zu genießen. Ansonsten scheint alles friedlich und ruhig zu sein. Dennoch ist dort etwas. Ich kann es deutlich spüren.
»Wer ist da…?!«, rufe ich über die kleine Lichtung.
Doch eine Antwort bleibt aus. Ich warte ab. Nichts geschieht.
»Zeige dich endlich. Ich weiß, daß du da bist!«, versuche ich es erneut und mit etwas mehr Nachdruck.
Wieder nehme ich keinerlei Reaktion wahr.
Dieses Gefühl in mir, es ist jedoch ganz eindeutig. Dort muß einfach etwas sein. Ich wage es kaum, mich zu bewegen. Die Zeit vergeht. Ich harre eine lange Weile einfach nur aus. Inzwischen erreichen die Sonnenstrahlen die Lichtung nicht mehr. Mit diesen hellen Lichtkegeln der Sonne, sind auch die seidenen Sommervögel verschwunden. Die bunte Waldwiese, sie scheint plötzlich erheblich an Farbe verloren zu haben. Es wird Abend. Doch das unterschwellige Gefühl, beobachtet zu werden, es quält mich weiterhin. Ich fühle mich tatsächlich ein wenig bedroht.
Es ist Zeit vergangen. Der Himmel ist klar in dieser jungen Nacht. Zahllose Sterne glitzern über mir. Dieses wunderschöne Gefunkel, es ist in der hellen Stadt bei den Menschen, nicht annähernd so schön. Die Sterne erinnern mich an kleine Diamanten, die auf schwarzem Samt liegen. Es ist kühl geworden. Ein ganz leichter Nebelschleier liegt über den Gräsern der Lichtung. Noch immer harre ich aus. Dieses ominöse Etwas, es beobachtet mich weiterhin. Kein Wild hat sich während der Dämmerung auf die Freifläche gewagt. Das erscheint mir ein weiteres Indiz dafür zu sein, daß ich in Gesellschaft bin. So habe ich beschlossen, die Angelegenheit einfach auszusitzen. Irgendwann muss doch einfach etwas geschehen. Dann werde ich endlich erfahren, wer meinen inneren Frieden belagert und damit meine neue Heimstatt bedroht.
Die Stunden vergehen. Ich bin müde. Kaum mehr kann ich mich wach halten. Es kostet mich viel Mühe, nicht einfach sofort einzuschlafen. Doch irgendwann muss es wohl dann doch geschehen sein.
Kurz vor Tagesanbruch erwache ich. Es ist noch dunkel. Ein erster Schimmer der aufgehenden Sonne, er ist bereits wahrzunehmen. Kühl ist es. Meine Kleidung ist klamm. Müde sehe ich mich in der nahen Umgebung um. Da ist etwas zwischen den Bäumen. Sofort bin ich hellwach. Mein Körper schüttet Adrenalin aus. Was ist das?
Es ist eine Art Licht. Dieser freien Wiesenfläche scheint es sich langsam zu nähern. Lautlos schwebend verläßt es den Schutz des Waldes. Ich bin ganz aufgeregt. Es ist auf der Lichtung jetzt ganz klar zu erkennen. Ein seltsamer Lichtschein ist es. Wie eine kleine Kugel sieht er aus. Sie nähert sich mir langsam. Mitten auf der Lichtung stoppt das Licht in der Luft. Zunächst geschieht nichts weiter. Es ist einfach nur Stille um mich herum. Ich wage es kaum, zu atmen. Mein Herz klopft unangenehm. Meine Augen brennen ein wenig.
Aus dem Fastdunkel des Waldes, da erscheinen plötzlich aus allen Richtungen Motten. Oder sind es sogar Schmetterlinge? Erst als einige dieser fantastischen Tiere ganz dicht an mir vorbeifliegen, erkenne ich es genau. Es sind tatsächlich alles Schmetterlinge. Nur durch das seltsame Licht der Kugel beschienen, kann man sie überhaupt erkennen. Ein faszinierendes Schauspiel offenbart sich mir, das ich nie zuvor beobachten konnte. Die matt leuchtende Kugel, sie wird allmählich amöboid und verformt sich. Die Gestalt einer jungen Frau aus fahlem Licht erscheint allmählich auf der nächtlichen Waldwiese. Die Sommervögel flattern ganz aufgeregt um sie herum. Man kann die Tiere kaum erkennen. Doch sie sind tatsächlich da. Das karge Licht, es läßt sie alle ungewohnt grau aussehen. Fast wie große Motten muten sie an. Die Wesenheit steht nun mitten auf der ruhenden Lichtung. Sie scheint völlig aus seltsam fahlem Licht zu bestehen. Dennoch kann man viele Details erkennen. Sie trägt langes Haar, hat eine zierliche Statur. Selbst ihre Finger kann man erkennen, als sie einen Arm ein wenig hebt. Bedrohlich wirkt sie überhaupt nicht auf mich. Ihre Anwesenheit erfüllt alles um mich herum, mit einer seltsamen Energie. Diese scheint fast magisch zu sein.
Inzwischen bricht der Tag langsam an. Das erste Licht der Sonne, es bringt sogleich einige der vielen Farben in den Wald zurück. Das Wesen wird allmählich immer undeutlicher und ist für mich immer schwerer auszumachen. Doch plötzlich wendet es sich mir zu. Es scheint mir fast, als würde mich dieses seltsame Mädchen direkt ansehen. Ja, sie ist es, die mich am Tag zuvor beobachtet hatte. Jetzt bin ich mir vollkommen sicher. Es ist dieses gleiche Gefühl in mir zu spüren, wie schon am Tag zuvor. Ganz langsam nähert sich das seltsame Lichtwesen. Ihm folgen die vielen Schmetterlinge, die es aufgeregt umflattern. Eigentlich müsste ich wohl Furcht verspüren. Doch in mir ist ein Gefühl von Glück und Freude. Ich habe ein ungemein schönes Erlebnis und bin mir dessen auch bewußt. Das Licht des Tages, es zeigt sich allmählich durch einen orangenen Schimmer am Himmel. Dieses Bunt der Sommervögel, es kehrt langsam mit den Strahlen der Sonne zu den Tieren zurück. Nur noch wenige Meter trennen dieses faszinierende Mädchen von mir. Einen feinen Blumenduft nehme ich wahr. Er ist seltsam anders, als der Duft der Wiesen und des Waldes am Tag. Dieser Geruch enthält ungemein betörende Aspekte. Es scheinen Duftstoffe in ihm zu sein, die mir völlig fremd sind. Ich habe sie möglicherweise nur vergessen. Kaum mehr ist diese strahlende Kreatur noch zu erkennen. Zu sehr dominiert bereits das Licht des neuen Tages die gesamte Waldbühne. Als die junge Frau mich schließlich erreicht, ist sie praktisch visuell für mich verschwunden. Nur noch die vielen Sommervögel bleiben in ihrer ganzen Pracht zurück. Fast erscheint es mir, als würde die ganze Herrlichkeit dieser Erscheinung, vollkommen in den Farben der Schmetterlinge aufgegangen sein. Dieses ganze Erlebnis, es fühlt sich vollkommen natürlich und beruhigend harmonisch an. Die samtenen Schmetterlinge, sie umwirbeln nun plötzlich mich. Sie bereiten mir damit eine unbeschreibliche Freude. Einige von ihnen berühren meine Haut. Deutlich spüre ich den feinen Kitzel. Die Frau ist jetzt fort. Sie hat sich im zunehmenden Licht der blauen Stunde einfach aufgelöst. Zu einer schlichten Ahnung bei Tag ist sie wohl nun geworden. Ich bin tief beeindruckt.
Die bunten Sommervögel verteilen sich allmählich wieder auf der Lichtung. Erste Blüten öffnen sich. Alles fügt sich nun so, wie es an einem frühen Morgen im Wald sein soll. Einige warme Sonnenstrahlen dringen inzwischen auch durch die Bäume. Kräftiger Vogelgesang ist zu hören. Wenige Augenblicke später wage ich es endlich, mich wieder zu bewegen. Meine Gelenke schmerzen, als ich mich in den Stand erhebe. Ich bin immer noch ziemlich benommen. So suche ich mir eine Stelle, an der die Sonne bereits den Boden erwärmt. Dort setze ich mich auf diesen ab und denke über die erstaunlichen Eindrücke der letzten Zeit nach. Die sanfte Hitze der Morgensonne ist mir angenehm. Inmitten der Natur und in ihrem friedlichen Schoß, dort finde ich meine innere Mitte schnell wieder. Ich bin froh. Es war definitiv kein Mensch, der mir meinen Frieden bedrohen wollte. Es war die scheue Zurückhaltung dieser Wesenheit. Offenbar ist die sensible Entität bei Tageslicht nicht so leicht auszumachen. Vielleicht folgte mir das das Wesen, weil es von seiner Neugier getrieben wurde. Immerhin verhalte ich mich schon ein wenig anders, als andere Menschen. Dieses Gehölz ist offenbar seine Heimat, in die ich dreist eingedrungen bin und in der ich mich bewege. Als Mensch trage ich wahrhaft keinen positiven Leumundbrief mit mir herum. Mich wundert es tatsächlich kaum, daß alles Lebendige in diesem herrlichen Friedland die Menschen meidet und ihnen mit viel Scheu begegnet.
Der Tag im Wald verläuft eher ruhig. Gegen Mittag höre ich die Stimmen einiger Spaziergänger. Ich gehe den Menschen aus dem Weg. Schon ihre Stimmen provozieren mich. Doch das war schon immer so. Früher traf man mich deshalb oft auf dem Friedhof an. Das ist leider der einzige Ort in der Stadt, an dem die Menschen sich zumeist dezent und ruhig verhalten. Doch selbst dort gibt es immer einige die meinen, laut schwatzen und lachen zu müssen. Für was halten sich diese Menschen? Nur wenige nehmen sich etwas zurück. Kaum jemand erweist damit der Umwelt wenigstens ein Mindestmaß an Respekt. Ich bin froh, das der leidige Menschenkelch nun an mir vorübergegangen ist. Dieser Gedanke läßt mich innerlich schmunzeln. Christlichen Ursprungs ist sie wohl, diese Analogie mit dem Kelch und so überhaupt nicht von mir. Dabei bin ich kein Christ. Ein regelrechtes Potpourri aus invasivem Gedankengut der gesellschaftlichen Großkörper hat sich in meinem Kopf ausgebreitet. Wie Unkraut, so wuchert es auf meinem Entscheidungszentrum. Unsinnige und nutzlose Gedanken lassen mich groteske Entscheidungen treffen. Was hat man nur mit mir gemacht? Abstand brauche ich. Zu schön ist die Natur, als das ich sie mit einem Haufen Menschen in ihr nötig hätte. Auch ohne Menschen findet man überall deren hässliche Spuren und Massen an Abfall. Je mehr ich mich der Natur verbunden fühle, desto mehr erscheint mir der menschliche Abfall störend und ekelhaft. Es erfüllt mich mit Scham, selbst auch ein Mensch zu sein. Doch ich bin ohne Schuld eben das zu sein, was ich nun einmal bin. Das ist doch das ganze Dilemma, in dem ich stecke.
Meinen Frieden sollte ich nun hier leben. Besser nicht ewig über Menschen hadern, wäre mir anzuraten. So ist er, mein Plan. Jeder noch so winzige Kontakt, er regt mich jedoch auf. Der Glockenlärm der Kirchtürme, er läßt das scheue Wild ängstlich aufblicken. Das Rauschen der fernen Straße kratzt beständig an meinen Nerven. Ich kann das alles einfach nicht abstellen. Ertragen muß ich es. Toleranz muß ich üben bei den Menschen. Sie sind selsbt jedoch keinesfalls dazu bereit, das Leben der Pflanzen, der Tiere und auch mein Leben zu tolerieren. Schon bereits vor meiner Geburt war ich ein Gefangener. Ein Recht auf Freiheit wird immer wieder und mit hohem Eifer gesellschaftlich diskutiert. Doch eigentlich stand Freiheit nie wirklich zur Debatte. Sie ist leider nur eine Fiktion, um uns Menschen bei Lust und Laune zu halten. Freiheit ist nur ein Gefühl und damit von Natur aus subjetiv. Das gesamte Gewicht der gefühlten Freiheit, es wird durch das Maß an vorhandener Begrenztheit bestimmt. Freiheit ist immer begrenzt. Erst mit Auflösung aller ihrer Begrenzungen, wandelt sich Freiheit in Grenzenlosigkeit. In einer durch Endlichkeit geprägten Menschenwelt, wird dieser Zustand wohl nur schwer zu erreichen sein. Der Mensch müsste imstande sein, sämtliche in seinem Geist befindlichen Begrenzungen aufzulösen. Bei dem Prozess des Erwerbens dieser vorzüglichen Errungenschaft, steht der Mensch offensichtlich noch ganz am Anfang. So ist Freiheit heute mehr wie ein Kuchen, den sich die Menschen einfach genommen haben, um diesen unter sich aufzuteilen. So wahnsinnig viele Menschen gibt es, daß sie sich um die kleinsten Krumen streiten und blutige Kriege um sie führen. Aber so ist das Leben eben.
Offenbar muß eine Gesellschaft erst tief fallen, bevor sie aus den hieraus erworbenen Erfahrungen, einen gewissen Wert für seine Entwicklung schöpfen kann. Ein einfacher Verlust von Werten reicht da nicht aus. Es muß wohl schon ein regelrechter Wertesturzflug sein, um eine gemeinsame Leidensbasis zu erschaffen. Diese muß dann von möglichst vielen Menschen gefunden werden. Denn nur aus dem Erleiden der Welt ist es den Menschen offenbar möglich, für sich zu lernen und sich effektiv weiterzuentwickeln. Nicht ohne Grund sprechen wir in Zusammenhang mit Schöpfung, gerne von Leidenschaft. Sie ist das leidvolle Begreifen in bildlichem Sinn. Jedenfalls erscheint mir das auffällig. Warum sonst zerfallen Gesellschaften immer wieder aus eigenem Antrieb und mittelbarem Selbstverschulden? Nun, wie dem auch sei, ich möchte mich da wirklich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Es wäre eine törichte Anmaßung von mir zu meinen, die Menschen auch nur ein wenig zu kennen. Sie kennen sich doch selbst nicht einmal.
Autor: © Alexander Rossa 2024