Zweiter Rotmond im Blattfall 1987…
»Wo Du bist, dorthin kann ich Dir nicht folgen. Selbst wenn ich es versuchte, so bin ich nicht in der Lage zu denken, was Du denkst, zu fühlen, was Du fühlst, und ich kann einfach nicht begreifen, was Du begreifst.«
»Aber dennoch liebe ich Dich und danke Dir dafür, dass Du versuchst zu denken, wie ich denke, versuchst zu fühlen, wie ich fühle und Dich bemühst zu begreifen, was ich einst begriffen habe. So ist es der Wille, der uns vereint und unsere Liebe nährt.«
Die Leute reden viel.
Vielleicht reden die Leute auch inzwischen viel zu viel. So reden sie auch über mich.
Schon immer haben sie über mich geredet, und sie reden wahrlich nichts Gutes.
Doch wer kann schon sagen, was gut ist und was nicht gut ist?
Niemand kann von sich behaupten, mit unfehlbarer Genauigkeit zu wissen, was gut ist und was schlecht. Ebenso wenig kann niemand ernsthaft behaupten, es gäbe in der Welt das Gute und das Böse. Es ist immer der Mensch selbst, der vom Grundsatz heraus entscheidet, was gut und was böse ist.
So haben sich viele Menschen eben auch dafür entschieden, das ich, als alte und schwächliche Frau des Waldes, schlecht und böse sein muss, nur weil ich anders bin, als sie. Diese Menschen gehen fast immer davon aus, selbst das Gute zu verkörpern, ihm zu folgen und ihm zu huldigen. So muss in ihren unfehlbaren Augen natürlich alles andere schlecht und böse sein. Es ist ihnen nicht recht und ganz unheimlich, anders zu sein, als sie es selbst sind.
Ich trage andere Kleidung, denke in anderen Dimensionen und Gefilden, lebe anders und spreche über allerlei Dinge, die sie nicht verstehen.
Oft wollen sie es nicht verstehen.
Sie sind entweder zu faul und bequem dazu, oder sie fürchten sich ganz einfach nur.
Das zu behaupten, das ist wohl überaus fatal und sehr anmassend von mir.
Doch wie soll ich denn schon in einer anderer Form handeln, wenn ich nun einmal völlig anders geboren wurde und auch einfach nur anders bin?
Du Mensch, ich bin eine Hexe!
Ydiotis Kinderträne ist mein Name.
Na, und?!
Der Mensch neigt eben dazu, all jene Dinge für böse und gefährlich zu halten, die er nicht versteht. Zudem zerstört er oft mit Vorliebe diese für ihn augenscheinliche Brutstätten des Bösen. Diese menschliche Eigenart gilt heute als allseits gesichert und anerkannt.
Natürlich gibt es unter den vielen Menschen auch einige die meinen, selbst eine Hexe oder etwas ähnliches zu sein. Doch glaube mir, sie sind es nicht wirklich. Ich kann das ganz ruhigen Herzens einfach so behaupten, denn ich, ich bin wahrlich eine Hexe. Schon immer war ich eine Hexe und werde es auch weiterhin sein.
Aber viele dieser selbst ernannten hexischen Frauen und Männer, sie sind viel zu oft und viel zu viel, nur reine Geschäftsleute und aufschneidende Fabulanten. Was als bizarre Modeerscheinung einer kleinen Randgruppe begann, hat sich in der Zwischenzeit zu einem regelrechten Hexenwahn entwickelt. Es ist heute eben richtig schick, eine Hexe zu sein.
Das gilt jedoch immer nur für die politisch korrekte Hexe im Doppellebenformat, einem üblen Produkt dieser grässlichen Medienwelt, die sich um uns herum immer weiter ausbreitet und die Gehirne der Menschen zerfrisst.
Diese überaus sozial verträgliche Klischee-Hexe praktiziert natürlich nur weisse Magie, neigt zur Philanthropie, liebt es Kräuter auf dem heimischen Balkon anzubauen, hasst Schnittblumen und versucht allen Menschen selbstlos zu helfen.
Die liebenswerte, liebevolle und liebreizende Knuddelhexe der Neuzeit, sie ist eigentlich mehr der misslungene Versuch einer Menschen liebenden Fee mit Glöckchenkette an den Fußgelenken, Räucherstäbchen im Wohnzimmer, und ist nicht selten ist sie auch noch eine ambitionierte Reiki-Meisterin.
Viele dieser allseits engagierten Trendhexen meinen auch, ihren christlichen Glauben, die Kirchen und das Hexentum miteinander vereinen zu können, was seitens der Kirchen sicherlich für einiges Entsetzen sorgen dürfte, was ich sogar durchaus verstehen kann.
Ohnehin verwunderlich ist, dass die meisten Hexen der Neuzeit offenbar direkt als fertige, aufgestiegene Meister/Innen einsteigen, was eine grandiose und autodidaktische Blitzlehre okkulter Geheimnisse im Schutze des heimischen Wohnzimmers vermuten lässt. In einer Woche von der Hausfrau, zur aufgestiegenen Meisterin okkulter Künste mit Hilfe eines Hörbuches aus dem Internet-Kaufhaus. Na, wie schön.
Viele der modernen Hexen verstehen unter Psychokinese wohl eher einen psychisch erkrankten Chinesen, aber wohl eher weniger das Bewegen von Gegenständen durch rein geistiges Einwirken. Nein, das sind keine wirklichen Hexen, so meine ich. Das sind wohl eher nur Menschen, die den Begriff »Hexe« für sich benutzen, um sich von der übrigen Gesellschaft abzuheben und um endlich auch einmal interessant und etwas ganz Besonderes zu sein. Sollen sie ruhig, würden sie dabei anderen Wesen nicht schaden.
Hexentum ist heute zu einem regelrechten Konsumgut verdorben.
Doch man darf dann gleich erneut staunen, denn diese neuen Hexen werden so gut wie niemals gemeint, wenn es darum geht, jemanden übel zu beschimpfen und des Bösen bezichtigen. Sie sind nicht der Grund für die Furcht und Nervosität, die viele Menschen in der Gegenwart einer wahren Hexe verspüren und die sie sich nicht erklären können. Diese Hexen erinnern mich wirklich mehr, an die kleinen Prinzessinnen, die man in der Karnevalszeit durch die Strassen ziehen sieht. Nur sind diese kindlichen Prinzessinnen meistens in einem sehr jugendlichen Alter und eben nicht erwachsen, wie diese Modehexen. Hand aufs Herz, niemand würde wohl wirklich annehmen, dass diese kleinen Mädchen alle tatsächlich Prinzessinnen sind, oder? Warum ist das bei den Hexen anders?
Nun, weil es eben nicht anders ist! Die Menschen nehmen diese Hexen eigentlich nicht wirklich ernst. Zu alledem kommt hinzu, dass sie einfach nicht mehr wissen, was eine wirkliche Hexe überhaupt ist. So geben sie sich mit diesen überall aus den Plattenbausiedlungen hervor spriessenden, modernen Hexen zufrieden. Dabei ahnen sie mit Sicherheit unterschwellig, dass es sich bei vielen und scheinheiligen Postulaten dieser Damen und Herren, tatsächlich nur um den esoterisch anmutenden Quatsch einiger selbsternannter Hexen handelt.
Doch es gibt sie noch, die wahren Hexen.
Manche von ihnen sind sogar noch ein wenig menschlich, so wie ich selbst auch noch ein wenig menschlich bin. Man mag es kaum glauben.
Hexen sind zudem stark spirituelle Wesen, die sich selbst dazu entschieden haben, die Zwischenwelt zu bevorzugen. Sie ziehen alles Jenseitige vor, akzeptieren aber zugleich auch ihre derzeitige Position, wo immer sie auch sein mag.
Sie hadern niemals um ihre Position als Hexe, sondern sehen sie als Herausforderung für das Erleiden von Wahrheiten. Man hat als wahre Hexe treffend erkannt, dass es eben keine Rolle spielt und nicht wirklich von ungemein hoher Wichtigkeit ist, die eine fundamentale Ausrichtung im Leben ganz unbeachtet zu lassen, um sich den anderen Ausrichtungen voll und ganz zu widmen.
Körperliche Endlichkeit ist für eine Hexe lediglich ein sehr relatives Attribut, das man für sich selbst entschlossen hat, einfach so zu tolerieren. Die grundlegende Betrachtung des ursprünglichen Wesens einer Hexe hat sich gewandelt, und auf die kommt es ganz wesentlich an. Eine Hexe ist im Grunde kein Mensch mit der Eigenschaft, eine Hexe zu sein. Sie ist vielmehr eine Hexe mit der Eigenschaft, ihr derzeitiges Attribut »Mensch« zu tolerieren. Es ist die reine Entscheidung der Hexe selbst, dies zu tun. Sie steht mit dieser echten und gelebten Einstellung automatisch über allen endlichen Dingen, was zudem ein klares Erkennungszeichen für ihre wirkliche Existenz in der anderen, übersinnlichen Welt ist.
Eine wirkliche Hexe ist ein Geschöpf der Zwischenwelt, und dieses Dasein prägt die Persönlichkeit ihres menschlichen Auftretens ganz deutlich mit. Man kann nicht nur ein wenig Hexe sein, kann nicht als Teilzeithexe leben, die diese Entscheidung wegwischt und dann wieder heraus holt, immer so, wie es ihr beliebt. Hat sie ihre Entscheidung einmal getroffen, und lebt sie ernsthaft danach, dann gibt es kein Zurück. Ihr ungewöhnliches Auftreten wird daher immer wieder von vielen Menschen nicht verstanden und kann von ihnen überhaupt auch nicht begriffen werden, weil die Basis ihrer Entscheidung auf einer Ebene liegt, die für viele Menschen einfach nicht erreichbar ist. Daher erschienen die Hexen den Menschen nicht selten als böse, unlogisch und beängstigend.
Das dieses Auftreten der Hexen die Vorurteile und den Aberglauben speist, dürfte wohl jedem Leser klar sein. Diese drei anklebenden Attribute einer Hexe jedoch, sie sind immer von den Menschen selbst gegeben, und ihnen liegt stets eine menschliche Entscheidung zugrunde. Das Menschen jedoch rasch dazu neigen, sich zu irren und sich zu abstrusen Entscheidungen hingezogen fühlen, dürfte auch jedem aufgeklärten Menschen von heute inzwischen schon einleuchten.
Ich jedenfalls, ich bin so eine böse und widerwärtige alte Hexe. In einer alten, morschen Hütte im Wald, da lebe ich mein ungewöhnliches Leben. Ich bin durch und durch dämonisch und erschrecke unschuldige Kinder. Nicht, dass ich dazu auch nur irgend etwas hätte selbst tun müssen. Nein, ich lebe hier nur meine Zeit. Das reicht schon völlig. Die Menschen sorgen schon von ganz alleine dafür, dass sich die Kinder aus Stadt vor mir fürchten und die Alten mich entschieden meiden.
Das geht schon seit vielen Jahrhunderten so, und das wird sich wohl auch in den nächsten paar Jahren nicht ändern. Die Menschen leben sich ihre ewige Angst vor der Vergänglichkeit des eigenen Ichs immer wieder gegenseitig vor und vererben diese durch Erziehung immer wieder weiter. Vielleicht wird der Mensch irgendwann einmal eine Stufe seiner Entwicklung erreichen, in der er die Folgen seiner oftmals sehr unsinnigen Lernschemen versteht und diese auch selbst erkennt. Dann wird er auch sehen, dass er sich selbst über eine so lange Zeit von den verlockenden Weiten des Lebens ausgeschlossen hat. Ich werde dann selbst wohl nicht mehr das Attribut »Mensch« besitzen und meine endlichen Aspekte des Seins wohl wieder weit hinter mir gelassen haben.
Die Erfahrung ist es, die zählt. Immer ist es die Erfahrung, die dem Lernen von Wahrheiten voraus geht. Die Wahrheiten sind das wirkliche Ziel, nach dem alle Hexen streben. Es sind die Wahrheiten des Lebens und des Seins, die sie anziehen und die unwiderstehlich für sie sind.
Man muss nicht den Namen einer Sache kennen, um diese Sache zu beherrschen. Es ist viel wichtiger, die Wahrheit und das wahre Sein einer Sache begreifen zu können und für sich im Herzen und Verstand begriffen zu haben. Damit werden die kleinsten Dinge im Sein unermesslich gehaltvoll und der Umgang mit ihnen, er wird pragmatisch und atemberaubend sinnlich. Das Ergebnis wird dann sein, im Einklang mit dieser Erfahrung zu leben und nach ihr zu Handeln, stets einer wohltuenden Harmonie wegen.
Hexen mögen Menschen.
Ja, sie tun das wirklich.
Je weiter die Menschen von ihnen entfernt sind, desto mehr mögen sie die Menschen. Schaden wird eine echte Hexe einem echten Menschen niemals. Nur verhält es sich im Allgemeinen immer wieder so, dass ein Mensch es oftmals nicht weiss und wissen kann, was wirklich gut für ihn und was wirklich von Bedeutung für eine höhere Gesamtheit ist.
Echte Hexen besitzen kein Machtstreben. So viele, für Menschen ungemein wichtige Dinge, man könnte sie hier nahezu endlos aufführen, sind für Hexen völlig unwichtig.
Hexen betrachten die Welt der Menschen immer aus ein wenig Distanz.
Das ist eine sinnvolle Eigenart, die der Mensch für sich nutzen könnte, wenn er denn nur wollte. So vieles Sinnvolles gibt es, was eine wahre Hexe ausmacht. Doch erscheint es mir so, als wenn die Menschen alle diese Dinge völlig vergessen haben. Es amüsiert mich sogar immer wieder sehr, wenn ich von modernen Hexengruppen höre, die ihre Spielfilme aus Hollywood und die Serien aus dem Fernsehen regelrecht nachspielen und diese dann wieder selbst weiter verbreiten.
Dabei gibt es eigentlich keine modernen Hexen. Wie denn auch, wenn die Wahrheiten nach denen sie leben und bestehen, einfach nicht veralten können. Wahrheiten sind doch immer nur das, was sie sind, eben Wahrheiten. Das sind sie auch, wenn sie schon tausende von Jahren Wahrheiten sind. Wahrheiten sind das Beständigste im ganzen Universum. Daher ist dieses ganze, angeblich so alte und angestaubte Wissen von Wahrheiten noch immer genauso aktuell wie zu jener Zeit, in der dieses Wissen zuerst erfahren wurde.
Mag sein, dass es das Leben mit der ständigen Suche nach Wahrheiten ist, das uns Hexen in den Büchern und Filmen der Menschen als Wesen erscheinen lassen, die stets verbissen danach streben, niemals zu altern. Wieder wäre das Streben nach ewiger Jugend ein Symbol für das mangelnde Verständnis der Menschen, für das andersartige Denken und freie Leben der Hexen.
Aber auch ein sogenanntes »Buch der Schatten« zu führen, das erscheint einer Hexe völlig sinnfrei, auch wenn es als Symbol auf den Umstand deutet, dass Hexen tatsächlich gerne sammeln. Doch Wahrheiten können immer nur erfahren werden. Wie oft schon habe ich das bei den Menschen um mich herum bemerkt, und doch bleibt es wieder und wieder unerhört.
Es ist ein grosser Irrsinn, über Wahrheiten ein Buch schreiben zu wollen.
Jeder Leser kann sich noch so sehr bemühen und anstrengen, er wird diese Wahrheiten doch stets nur glauben können, und damit sind sie augenblicklich keine Wahrheiten mehr. Was neue Hexen daher wohl schreiben und pflegen, das sind eigentlich Tagebücher und niedliche Poesiealben, nicht mehr und nicht weniger. Nur hat man diesen sogenannten »Büchern der Schatten« einen wichtig und mysteriös klingenden Namen gegeben, wie ich finde. Ist doch trendig. Das passt doch wirklich wunderbar zu dieser allgemeinen, neuen Hexenwelle, zumal so ein »Buch der Schatten« bei dem oben bereits schon erwähnten »Psycho Chinesen« wahrscheinlich wirklich gut ankommen wird.
Aus genau diesem Grund werden die Leser dieses Buches auch keine wirklichen Wahrheiten von mir finden, sondern höchstens nur vereinzelte Berichte über sie.
So fällt es sicher leicht, mich des Lügens zu bezichtigen. Doch dann wird wohl jeder Autor eines Buches in den Kreis der Verdächtigen rücken müssen. Es soll wirklich kein Zauberbuch, kein Grimoirium oder Hermetikum sein, was ihr vielen Hexenfreunde oder Hexenfeinde hier nun in der Hand haltet. Nur von meinen Gedanken und über mein Leben werdet ihr ein wenig lesen können, dem Leben einer alten und inzwischen reichlich verwirrt wirkenden Hexe.
Aber solltet ihr wirklich Wahrheiten suchen wollen, dann werdet ihr diese Wahrheiten nur über die Pfade der Sinnlichkeit finden können. Nicht ohne Grund werden von den Unwissenden dieser Welt Sinnlichkeit und Lüsternheit miteinander verwechselt und uns Hexen dann wieder einmal ausschweifende Ekzesse und masslose Sexorgien angedichtet. Nur Menschen mit einem beschränkten Verständnis dafür, das Hexen die Fähigkeit und den Mut besitzen, Sinnlichkeit auszuleben und sie kultivieren zu können, werden ihren Vorurteilen auf diese Weise freien Lauf lassen. Für sie gibt es daher auch keinen wesentlichen Unterschied zwischen Sinnlichkeit und mechanischem Sex. Sie werden uns Hexen immer wieder neu denunzieren und niemals mit abstrusen Phantasien und bizarren Märchen sparen, wenn es doch nur darum geht, uns Hexen überall in der Welt, als das personifizierte Böse zu predigen und zu zeichnen.
Doch vielleicht kommt alles auch ganz, ganz anders.
Vielleicht treffen wir uns alle einmal als wahre Hexen wieder.
Alles ist möglich, wenn man bereit ist, seinen Einsatz zu leisten.
Man hat einfach nichts zu verlieren.
Aber es gibt auch zu diesen Gedanken wieder jene Menschen, die nicht verstehen können, dass es so viel mehr gibt, unglaublich viel mehr, als jeder einzelne zu Denken und Wahrzunehmen fähig ist. Diese Menschen sind die Zweifler und die Spötter, die sich nur im Schatten ihrer Selbstgefälligkeit bewegen, um stets mit Akribie und Nachhaltigkeit, alles zu verletzen und zu vernichten, was nicht ihren Vorstellungen entspricht. Sie dulden einfach nicht, was sie nicht zu verstehen imstande sind. So vieles dringt zu ihnen vor, und dennoch wenden sie sich mit vehementer Gestik von ihrem spirituellen Feuer ab. Sie wenden sich ab, um ganz und gar körperlich und gestützt durch ein System von Dualismen, ihr begrenztes Dasein zu fristen. Sie sind wie eine riesige Kolonne übermotivierter Baumfäller, die mit Hast und Energie an ihrem eigenen Ast sägen.
Ich jedoch, ich bin nur eine alte Frau mit grauem Haar und wenig Zähnen im Mund, eine Frau, die nur etwas anders denkt und lebt, ein wenig anders tickt und atmet, als man es ihr diktiert und immer wieder abverlangt. Eine Hexe bin ich eben, eine wirre, alte Hagzissa, die in einem ebenso alten Haus, in einem noch älteren Wald lebt und nach dem Ältesten sucht, was das Leben ihr bieten kann…nach Wahrheiten.
Nur törichte Wesen denken an anderes, wenn sie an mich denken. Doch wer an mich denkt, bei dem bin ich schon in den Kopf eingedrungen und dort angekommen.
Doch wartet bitte einen Augenblick, ich verschliesse jetzt erst einmal die Fenster.
Wenn es dämmert, dann sollte man die alten Läden schliessen, da man sonst neugierige und arglistige Wesen anlockt.
Nein, ich meine nicht Tiere, sondern andere Wesen.
Tiere handeln nur nach ihrem Instinkt.
Ich meine andere Wesenheiten, jene Wesenheiten, die das Glitzern der Fenster lieben und schätzen, und ich meine natürlich auch wieder diese viel zu lästigen Menschen. Es ist nicht so richtig schlimm und übel, wenn sie zu mir kommen, aber eben auch nicht sonderlich gut und schön.
Je älter man wird, desto schwerer fallen die Menschen einer Hexe und um so hässlicher findet man ihre Gestalt. Ja, viele Menschen finden Hexen hässlich, ebenso hässlich, wie Hexen die Menschen finden. Aber uns Hexen bedeuten Äusserlichkeiten nicht so sehr viel, wie den Menschen. Seid doch ehrlich, was ist denn schon sonderlich schön an diesen nackten Menschen?
Alten Hexen fährt die Müdigkeit in die Knochen und nicht unbedingt immer gleich ein Hexenschuss. Das liegt wohl auch daran, dass man einfach nicht mehr so wendig und flexibel ist. Dann kommt eines zum anderen, so wie die Menschen als Übel, zu mir kommen. Als ich noch jung war, da habe ich dreimal geflucht, wenn sie die Hütte wieder verlassen hatten. Heute bin ich froh, wenn ich mir danach noch einen heißen Tee aus Schafgarbe und getrockneten Kamillenblüten kochen kann und man mir nicht dreimal hinterher flucht, wenn ich die Hütte betrete.
Auch wenn viele von euch nun triumphieren werden, dass ich wohl doch mit dem Bild einer alten Kräuterhexe viel mehr gemeinsam habe, als ich es jemals zugeben würde, so muss ich euch enttäuschen.
Wenn man im Wald lebt, so wie ich lebe, dann trocknet man sich die Kräuter für die Tees gerne selbst, weil es einfach besser schmeckt und mich mit der Umgebung in der sie wachsen, auf eine ganz sonderbare Weise verbindet. Diese Tees aus dem Beutel und dem Supermarkt sind nichts für mich. Sie sind so sehr anonym und richtig tot, diese eigentlich schönen und lebendigen Kräuter. Vielleicht ist das auch eine der Ursachen, warum man Hexen immer wieder gerne mit Kräutern zusammen bringt. Hexen verstehen es, auf den wahren Geist und das ehrliche Wort der Natur zu hören.
Die Menschen der Stadt sind für diese Stimme taub geworden.
Doch auf die Natur hören zu können, das ist kein Privileg der Hexen und Kräuterweiblein.
Nein, jeder Mensch könnte auf die Natur hören, wenn er es denn nur wollte.
Mit ein wenig Übung und Aufmerksamkeit wird jeder Mensch selbst erkennen können, dass ein Tee aus dem Teebeutel etwas ganz, ganz anderes ist, als ein freier, lebendiger Tee der Umgebung, der unter Berücksichtigung und Achtung des Geistes der Natur gebraut wurde. Auch wenn sich meine Worte konservativ und reichlich eso-mässig lesen lassen, so sind sie es viel weniger, als ihr vermuten werdet.
Es gibt einige renommierte Wissenschaftler, die meinen nachweisen zu können, dass Wasser beispielsweise eine gewisse Erinnerungsfähigkeit und vielleicht sogar eine ganz eigene und besondere Form von Bewusstsein besitzt.
Nach so langer Zeit sind diese Forscher nun endlich der Natur ein wenig mehr auf die Schliche gekommen, einer Spur von Schliche, der wir Hexen bereits seit Ewigkeiten überzeugt folgen.
Sicher ist es so, dass viele Menschen in einer Welt dessen leben, was ihnen irgendwie und auch zufällig vor ihre stumpfen Sinnen gerät. Doch kaum jemand lernt mit den ungemein vielen Dingen zu leben, die sich nur erahnen und erfühlen lassen.
Aus diesem Grund sind meine Tees ganz sicher etwas Besonderes.
Meine Tees fügen sich harmonisch in das Leben um sie herum ein.
Sie sind nicht immer gleich, kaserniert und stets aus dem gleichen, zu geschweissten Beutel. Jedenfalls bemühe ich mich darum, diese freien Tees regelrecht zu zelebrieren, bei jedem Aufguss neu und mit voller Akribie. Es gibt in meinen hexischen Kreisen tatsächlich aufgeweckte Menschen, die nutzen ihr gesamtes Leben dazu, um sich möglichst nahe an die vollkommene Harmonie heranzuarbeiten, selbst bei ganz einfachen und bedeutungslos erscheinenden Handlungen.
So kenne ich die seltsame Geschichte eines alten Mannes, der sein ganzes Leben lang damit zugebracht hatte, mit ein wenig Wasser und dem wenigen, feinen Staub an seinen Fingern, einen kleinen Stein zu polieren.
Er wollte es einem Bach gleich tun, der über viele Jahre hinweg ebenfalls die Steine in seinem Bachbett formte und glatt polierte. Der herab prasselnde Regen faszinierte ihn ebenfalls ungemein, jener Regen, der mit der Zeit, eben Tropfen für Tropfen und mit natürlicher Beständigkeit, das Gesicht der Natur formte.
So sass dieser Mann schliesslich jede freie Minute vor seinem Haus, meditierte und polierte dabei, still schweigend und mit seinen bloßen Fingern, diesen kleinen Stein. Er hatte dazu kein Tuch, keine Feile oder sonst irgendein Werkzeug. Es waren nur seine leeren, weichen Finger und der feine Staub, der an ihnen haftete.
Natürlich hielten ihn die Menschen nach einigen Wochen und Monaten für einen Taugenichts und einen regelrechten Toren, der die kostbare und begrenzte Zeit seines Lebens für einen einfachen und schnöden Stein vergeudete.
Doch wer diesen Mann kannte, der hatte auch verfolgen können, wie sich das Leben um ihn herum veränderte. Es schien fast so, als würde sich die Mutter Natur und alles irgendwie erreichbare Leben, ganz behutsam an diesen Mann mit dem kleinen Stein schmiegen und ihn liebevoll einbetten.
Die Tiere des Waldes verloren mit der Zeit ihre Furcht vor ihm, die Pflanzen richteten ihren Wuchs sogar nach ihm aus, und die Menschen seiner Umgebung gewöhnten sich schliesslich dann doch an ihn und sein merkwürdiges Tun. Er wurde auf diese Weise allmählich zu dem »Mann mit dem Stein«.
So sehr gewöhnten sie alle sich schliesslich an den seltsamen Mann, dass sie ihn immer wieder besuchten und ihm dann, in aller Stille und im Schatten der Nacht, ihre Sorgen erzählten und Nöte anvertrauten, wenn sie sich einsam und alleine fühlten.
Später bauten einige von ihnen ihre Hütten in seiner Nähe, beteten ihn später sogar regelrecht an und verehrten ihn. Der Mann mit dem Stein, er wurde zu einer Art heiligem Orakel für die ganze Region, und immer wieder reisten viele Menschen wegen ihm von weit her an, nur um einmal seinen, glatten Stein berühren zu dürfen.
Nach einigen Jahren hatten sich die wenigen Hütten, zu einer richtigen, kleinen Siedlung gemausert, in deren Mittelpunkt der Mann mit dem Stein sass und weiterhin seelenruhig meditierte. Sogar der Regen und der Schnee schienen ihn, mit einer fast unheimlichen Aufmerksamkeit zu beachten, da er in all den Jahren nicht einmal wegen dem Wasser des Himmels oder dem Schnee des Winters seinen Platz wechseln musste.
Nur in der Nacht, da legte er sich stets auf die Seite und den Stein unter das feste Tuch, auf dem er immer zu schlafen pflegte. Niemals sonst hatte er den Stein aus der Hand gelegt, bei keiner seiner Tätigkeiten und körperlichen Pflichten, bis zu jenem Tag beim Blätterfall, als er am Morgen erwachte und der glänzend glatte Stein, spurlos verschwunden war.
Ein kleiner Junge hatte ihn in der Nacht heimlich und vorsichtig fort genommen, um zu sehen, was daraufhin geschehen würde. So sind kleine Jungs eben, wenn sie etwas nicht sofort verstehen. Sie waren früher so, und heute sind sie nicht anders.
Als der Mann den Stein am Morgen einfach nicht mehr finden konnte, setzte er sich an seinen üblichen Platz und fiel in eine, selbst für ihn ungewöhnlich tiefe Meditation. Plötzlich rannen einige kleine Tränen über das faltige Gesicht des Alten. Er litt schrecklich, das war ganz offensichtlich. Aber dennoch gab der Alte keinen einzigen Ton oder auch nur das geringste Klagen von sich.
Den Menschen seiner Umgebung tat der Alte leid und sie versuchten, ihm einen neuen und ebenso schönen Stein zu schenken. Doch die Harmonie und die Vollkommenheit in der Welt dieses Mannes war so sehr gestört, dass er beim tiefen Rot am Abend des gleichen Tages, ganz einfach auf die Seite sackte und in vollkommener Stille und ohne sich weiter zu regen, verstarb.
In dem Augenblick seines Todes schien es, als dass der ganze Wald, mit all seinen Geschöpfen und auch alle Menschen der Umgebung, für einige Augenblicke ebenso ihren Atem anhielt, wie er selbst. Es fühlte sich so an, als wäre ein Teil von ihnen allen selbst für immer gegangen. Sogar die Luft an jenem Ort, sie schien völlig ruhig, entspannt und auch vollkommen leer gewesen zu sein. Diese Luft damals, sie schien absolut still zu stehen, und man hörte nicht einmal eines der vielen Insekten summen und auch nicht nur einen einzigen Vogel singen.
Der kleine Junge aber, der behielt diesen glatten Stein für sich, weil er sich davor fürchtete, dass man ihm sonst auf die Schliche kommen würde. So trug er über viele Jahre hinweg, seine bleierne Schuld mit sich herum und litt immer wieder unter schrecklichen Angstattacken. Er trug den Stein immer bei sich, bis er selbst ein alter und gebrechlicher Mann wurde. Für den Rest seines eigenen Leben trug er ihn in einem kleinen Lederbeutel verborgen, um seinen Hals. Dabei wollte er sich selbst seiner Schuld immer wieder gewahr werden und sich an die traurigen Folgen seines törichten Kinderstreiches erinnern.
Er fühlte sich verantwortlich, etwas unbeschreiblich Schönes zerstört zu haben.
Dieser alte Mann mit dem Stein hatte etwas ganz Wunderbares verkörpert.
Er hatte es zerstört.
Dieser Stein war ihm damit ein schreckliches Erbe geworden.
Durch diesen Stein schien er so sehr vollgesogen mit der Magie des Lebens, auf dass alles in seiner Nähe zu verderben und sich zum Unguten zu wenden schien.
Ja, so war das damals mit diesem kleinen Stein.
Hexerei hat nichts Böses an sich. Es ist der Aberglaube, der die Hexen in ein scheinbar sehr ungünstiges Licht rückt. Doch auch der Aberglaube ist nur ein weiterer Glaube, an den die Menschen sich klammern, wenn ihnen die wirklichen Erklärungen für das Leben fehlen.
Vollkommene Klarheit im Leben wird man durch einfache Erklärungsansätze nicht erreichen, selbst wenn die Offensichtlichkeit immer wieder mit uns so manchen Schabernack zu spielen pflegt.
So gibt es Magie und unheimliche Dämonen überall dort, wo der Glaube üppig gedeiht. Diese Dinge benötigen den Glauben der Menschen, wie der Mensch selbst, die Luft zum Atmen benötigt. Je mehr Klarheit und exaktes Wissen vorherrschen, desto weniger böse Finstere Dämonenbrut und Magie haben ihren Platz, um in den Köpfen der Menschen zu wuchern.
Magie ist die Erzeugung von Faßbarkeiten in den Köpfen der Menschen und nicht das Erschaffen von etwas völlig Neuem. So hat Magie nur die faszinierende Eigenschaft, das begrenzte Bewusstsein der Menschen zielgerichtet zu öffnen und es zu erweitern.
Hexen benutzen damit also lediglich die Erkenntnis und Entwicklung der Menschen, um ihre Ziele zu erreichen. Sie heilen also in Teilen, um es einmal ganz schroff zu formulieren, Kranke, die eigentlich nicht geheilt werden wollen, weil sie eben nicht wissen, wie es ist, gesund zu sein.
Dabei verändern Hexen aber niemals das, was wirklich ist, sondern öffnen nur das Blickfeld darauf und das Bewusstsein dafür. Das klingt sicherlich ein wenig verrückt und wirr. Ganz gewiss klingt es das. Doch ich bin eben nur eine alte Frau, die man wohl lieber in einem Altenheim wissen möchte, als in ihrer vermoderten Hütte im Wald vor der Stadt. Doch selbst wenn es so ist, so sind es eben genau diese Gedanken, die mich in den Augen der Menschen zu einer alten Hexe werden lassen.
Nicht einmal meine selbstgebackenen Plätzchen und meine Tees wollen sie kosten, so sehr glauben sie daran, dass ich sie verhexen könnte.
Dabei sind es heute eher die fadenscheinigen Worte der Politiker, welche die Menschen verhexen und ganz wirr werden lassen. Es sind Politiker, deren Worte Kriege herauf beschwören, Krisen auslösen und es nicht schaffen, den Hunger auf der Welt zu stillen.
Ich jedoch, ich verspreche den Menschen nichts, was ich nicht auch halten kann.
Politiker jedoch, sie scheinen regelrecht davon zu leben, ihre Versprechen nicht zu halten. Aber dennoch bin ich für die Menschen eben eine böse, alte Hexe, und diese ungemein feinen Politiker, sie spielen sich lautstark auf, die grossen Vorbilder einer Gesellschaft zu sein. Das ist alles wirklich ziemlich grotesk und lässt mich fast meinen guten Tee vergessen, der schon in alarmierender Weise abgekühlt ist.
Ich denke beim Tee darüber nach, mich nicht mehr Ydiotis Kinderträne zu nennen.
Dieser Name ist nicht mehr das, was ich jetzt bin.
Seine Ausstrahlung und sein Geist ist schwach geworden in den letzten Monaten und lässt mich nur noch in einem faden Grau erscheinen.
So werde ich jenen Namen für mich wählen, den mir das Leben jetzt auf die Stirn geschrieben hat.
Ich werde ab jetzt »Krautfrei Glattstein« heissen.
Ja, so will ich mich ab heute, ab diesem Tag und diesem Jahr nennen.
Autor: © Alexander Rossa 2024