David und die Freiheit

Zwei. Heimstatt.

Ich liege im Bett. Meine Augen sind geöffnet. Meine Fenster stehen weit offen. Ein leises Rauschen der Zugluft ist zu hören. Das Licht der Morgendämmerung kündigt den nahen Tag an. So liege ich einfach nur da und genieße den Augenblick. Ich liebe diese Ruhe. Es sind die Augenblicke, bevor die ersten Vögel ihren Gesang anstimmen. Der morgendliche Atem des nahen Waldes, er ist sauber, ganz frisch und mit dem süßen Duft der Blumen angereichert. Als hätten zauberhafte Dryaden die Flakons des Waldes geöffnet, so werden meine Sinne von diesem Wohlgeruch umschmeichelt. Sicher könnte ich mich umdrehen und versuchen, noch ein wenig zu schlafen. Doch was wäre ich für ein Tor?

Also liege ich nur ganz still da. Mein ganzer Körper ist komplett auf Empfang eingestellt. Jede Bewegung vermeide ich. Der sinnlichen Erfahrung des Augenblicks gebe ich mich hin. Es sind kleinste Momente der wahren Wonne, in einer eher derb geprägten Welt der Menschen. Nur eine kurze Weile der Herrlichkeit bleibt mir noch. Dann wird die Sonne mit ihrem Licht die Straße überfluten. Die Begegnung mit ihrer Wärme, sie erwarte ich mit großer Freude. Vögel werden singen. Fenster werden geöffnet. Toilettenspülungen werden betätigt. Menschen werden schreien, stinken und lärmen. Ihre Gesichter werden sich an den Fenstern zeigen. Müllbeutel werden in Tonnen geworfen. Die Motoren ihrer Fahrzeuge werden angelassen. Das wunderbare Antlitz des jungen Tages, es wird durch das frisch entfachte Feuer des Alltags regelrecht eingeäschert.

Das Leben, es wäre so reizvoll und schön, gäbe es nicht diese Menschenmassen. Es sind fast immer Neid und Rivalität, die Menschen durch das gemeinsame Leben treiben, als wären sie rote Stiere. Sie haben sich eine allzeit stressierende Multioptionsgesellschaft geschaffen. Diese fordert sie so immens, daß sie für die Wunder des Lebens nahezu blind geworden sind. Inmitten der nervösen Herden, da sehne ich mich nach einer stillen und friedlichen Wonnewelt hinter dem Rosengarten.

Die Zeit vergeht. Ich bin hektisch. Dann ziehe ich mich an. Ich schleiche mich aus dem Haus. Begegnen möchte ich niemandem. Wozu sollte ich das auch wollen? Die Menschen, sie geben mir nicht viel. Auf ihre musternden Blicke kann ich gut verzichten. Lautlos und perfide durchdringen diese Blicke mein Fleisch und verstrahlen meinen Geist. Deutlich spüre ich dieses Unbehagen und Brennen in mir. Fluchtimpulse lösen sie aus. Scharfkantige Wörter verlassen ihre Münder, als wären sie Geschosse. Sie nehmen Kurs auf meine Körperfestung und peitschen mich regelrecht aus. Ihre scheinheiligen Fragen, sie sind mir zuwider. In einem Meer der Heuchelei, versuche ich an der Oberfläche zu bleiben. Selten trifft man jemanden, dessen Fragerei auf einer Welle der Ernsthaftigkeit treibt. Des Menschen Freundlichkeit, sie ist oft nur aufgesetzt und peinlich unehrlich. Zumeist empfinde ich sie nicht mehr nur, als eine besonders üble Art von Respektlosigkeit.

Sensitive Menschen entlarven diese lieblose Maskerade rasch. Die ehrliche Meinung…? Auf sie trifft man leider nur sporadisch. Sie offenbart in der Regel persönliche Defizite beim Sender. Das finde ich nicht schlimm. Menschen sind nicht perfekt. Wir leben heute eben in einer Welt, die aus maskierten Meinungen gemauert zu sein scheint. Sie werden kunstvoll verbaut, um Reibungen und Zeitverlusten aus dem Weg zu gehen. Damit formen wir allerdings ein völlig falsches Bild von uns. Fällt erst einmal die Maske, dann erkennen wir uns zumeist selbst nur noch, als völlig entblößt und verunsichert. Damit wandelt sich die Maskerade unmittelbar zu einem Versteck des Trägers. Das fragliche Fundament einer unwirklichen Menschenwelt, es gilt damit als gesetzt.

Mich zieht es an diesem Morgen in den Wald. Der Sommer ist noch jung. Das Grün in den Wäldern, es zeigt sich frisch und saftig. Dieser Geruch der Bäume, er wirkt betörend auf mich. Der Atem des feuchten Bodens, er berauscht mich. Einigen Sonnenstrahlen gelingt es immer wieder, durch die dichten Blattkronen zu huschen. Auf dem Waldboden erschaffen sie kleine Inseln aus Licht und Wärme. Das leise Summen und Brummen von Insekten, es scheint allgegenwärtig zu sein. Das sind Augenblicke, in denen mein Herz noch lachen kann. Aus einer nahen Quelle schöpfe ich frisches Naß. Dieses frische Wasser in meinen Händen, es ist ganz klar und kühl. Ich sehe es mir an. Fasziniert bin ich von diesem Element. Mein Gesicht benetze ich damit. Wunderbar ist das Gefühl dabei. Wasser erleben zu können, das ist ein Genuss. Es verteilt sich. Kalte Rinnsale mäandern an meiner Brust hinunter. Dieses feine Gekitzel, es läßt mich die Wasserfrische intensiv spüren. Wie ungemein lebendig erscheint mir plötzlich alles.

Augenblicklich erfahre ich etwas, das ich eventuell mit dem Begriff Glück beschreiben kann. Sicher bin ich mir nicht. Zu lange habe ich ohne dieses Gefühl gelebt. Da ist sie endlich, jene lebendige Kälte, die mir diese bestimmte Wärme in meinem Herzen gewahr werden läßt. Ich werde mir des wohligen Gefühls bewußt, das ich stets mit einem Hochmaß an Sorgfalt zu behüten trachte. Doch erst einmal im Bewusstsein angekommen, droht diesem Gefühl, seine schnelle Verflüchtigung. Tief im Verborgenen halte ich daher die Erinnerung an es, um mich vor seinem Verlust zu schützen. Erst einmal aufgelöst, setzt augenblicklich der Prozess des Vergessens ein. Wurde es dann erst vollkommen vergessen, so bleibt nur noch Kälte zurück. Dieses frische Naß, es ist schön. Das Wasser lebt. Ganz klar und kühl ist es. Nein, ich habe die Wärme in mir noch nicht vergessen. Sie ist noch vorhanden. Dieses Naß hält die Wärme schön und das Wasser in mir am Leben.

Es ist dieser Morgen. Er ist ungemein reizvoll. Seine Augenblicke lassen mich, die Möglichkeit von Freiheit erahnen. Ich bin in Forscherlaune. Im satten Grün und zu dieser Zeit, fernab von dem lauten Gebrüll und wilden Gerangel der Menschen, da läßt sich der Schmerz ertragen. Es ist dieses unwirtliche Habitat der Menschen, das mir in all den Schatten und in der Nacht, von gleißendem Licht geflutet erscheint. Des Menschen Lebensraum, von ihm selbst geschaffen und inszeniert, er ist nur ein synthetisches Gebilde. Gott ist bei den Menschen. Er scheint mir zu einer Zutat verkommen zu sein. Doch dort bei ihnen steht mein Bett, mein Tisch, mein von den Menschen diktiertes Leben. Menschenmassen leben in dieser grotesken Welt um mich herum. Ihre Körper umwirbeln mich. Sie sind unangenehm nahe. Doch wie seltsam ist das?

Ich fühle mich im Gedränge und Gerangel dennoch stets einsam. Dabei sind sie üppig da, diese Mitmenschen mit ihrem ewigen Raunen. Überall sind sie präsent und doch auch so weit entfernt. Sie blicken zu mir. An mir vorbei sehen sie. Einige blicken sogar durch mich hindurch. Sie scheinen alle in ihrer eigenen Welt gefangen. Die Menschen leben ihr Leben offenbar in einer Art Seifenblase. So kommt es mir vor. Diese Sichtweise nährt eine ständig präsente Furcht in mir. Ihre Berührungen sind kalt und glitschig, als wäre Seife zwischen uns. Dringen aus dem Getöse und Geraune tatsächlich sinnhafte Worte zu mir vor, so meine ich immer wieder, nur ihr Echo zu vernehmen. Echos sind ohne Gefühl. Üppig verfremdete Hörkonstrukte sind sie, verzerrte Abbilder der eigentlichen Botschaft.

So stehe ich inmitten der Menschen und im Zentrum ihrer Echos. Dennoch steht das Ich alleine, als wäre es ein gemobbtes Kind auf dem Schulhof. Bei der Geburt, wie auch im Alltag, da bin ich alleine. Selbst beim Sterben werde ich es sein. Das Leben wird mich dann verlassen, als wäre es ein Jahrmarkt, der abgebaut wird. Der ganze Trubel und der Lärm, alles wird einfach von mir abfallen. Irgendwann wird sich selbst der süße Duft seiner vielen Verlockungen verflüchtigt haben. Der Duft vom bunten Naschwerk des Lebens, rasch wird er vergessen sein. Die Reste meiner endlichen Turbulenz, sie werden einfach vom Wind zerstreut. So stelle ich hiermit fest, dass sich eigentlich nichts ändern wird.

Mit dieser Erkenntnis ist nun der Augenblick gekommen, in dem sich mir das Leben, als drittklassige Ablenkung von der Einsamkeit offenbart. In vollkommener Freiheit leben zu können, das ist für mich ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Nicht mehr nur als eine absurde Idee, so erscheint mir der Wunsch von einem Leben in Freiheit. Jedoch dieses Begehren, es ist in meinen Kopf eingezogen. Es präsentiert sich mir, als ein eher schlechter Untermieter. Dieser Wunsch fordert mich jeden Tag pausenlos, ohne jedoch seine Schulden an meine Seele zu begleichen. Also nehme ich mir einfach in Raten, was mir für zusteht. Eine Ahnung von Freiheit ist dabei die Währung. Es ist sehr wohl ein fauler Kompromiss, der mich irgendwann einmal verzweifeln läßt. Leider ist Freiheit ausverkauft, auf das mir nur die Ahnung bleibt.

Ich beschließe jetzt einfach, nicht mehr umzukehren. Es zieht mich zu Orten, an denen der ewige Schmerz für mich erträglich ist. Wer kann mir das verdenken? Dort möchte ich versuchen, mein Leben mit Sinn auszufüllen. Dem Leid und der ewigen Hast muß ich entkommen. In meinem Kopf Freiräume für meine Gedanken schaffen, das ist mir wichtig. Ich möchte endlich wieder selbst entscheiden und denken können. Die Menschen und ihre Medien, sie haben mich vollgestopft mit wirren Emotionen und mich mit unnötigem Verlangen aufgewühlt. Die Rastlosigkeit der Menschen, sie wird durch permanente Provokationen immer wieder neu angeheizt. Meinungen werden wie Pralinen serviert, deren Rezept und Zubereitung man entweder schon lange vergessen hat, oder die man nie erlernen konnte. Die Menschen schreien sich dabei gegenseitig in die dunklen Ecken. Ich suche einen Ausweg aus dieser Hölle voller dünnhäutiger und entzündeter Menschen. Dieser allgegenwärtigen Perversion muß ich entfliehen. Nur noch den Provokationen meiner selbst, denen möchte ich mich widmen. Doch dazu muss es mir gelingen, mich selbst wieder wahrnehmen und hören zu können. Zu viele Stimmen reden auf mich ein. Unmengen bizarrer Bilder versperren mir die Sicht auf mich selbst.

Das Verlangen nach Freiheit, es drängt mich immer tiefer in den Wald hinein. Der Wald ist die Oase meines Ursprungs, an der ich den Puls meiner Natur noch ein wenig wahrnehmen kann. Wenn der Tag sich seinem Ende neigt, dann werde ich nicht mehr zurückkehren. Ich werde die vielen Brüller und Schreier für immer hinter mir lassen. Sollte ich ihnen wieder begegnen, dann werde ich mich abwenden und ihnen aus dem Weg gehen. Mein Leben wird sich radikal verändern. Vielleicht bedeutet diese Entscheidung meine Verwahrlosung, Hunger und Entbehrungen. Es ist ein Neustart. Doch ich kann den Lärm in meinem Kopf nicht mehr ertragen. Die Menschen haben mich vor langer Zeit mit ihrer Krankheit infiziert. Ich bin von ihren wahnhaften Visionen überschwemmt worden. Ihre kuriosen Medien und Streßkörper pumpen jeden Tag ihr fieses Gift in mich hinein, das mich zerfrißt und mich täglich leiden läßt. Die Krankheit ist bereits ausgebrochen. Sie wird mich töten, wehre ich mich nicht endlich. Ich muß sie abwehren.

Meine Füße tragen mich tief in den Wald hinein. Es duftet herrlich. Ich ziehe meine Schuhe aus. Das Moos und die Blätter unter meinen nackten Füßen, sie sind angenehm kühl und ganz weich. Schuhe wären hier eine unverzeihliche Albernheit. Ich lerne voller Aufmerksamkeit, den Boden zu erfühlen. Erst ganz langsam erfahre ich jeden Schritt neu. Nach einiger Zeit schreite ich bereits voller Resepkt voran. Würde ich unnötig hasten, so wäre ich töricht. Jeder meiner Schritte, er bedeutet schließlich Entfernung vom Stresskollektiv der Brüllkörper. Die Berühungen mit dem Boden, sie reduzieren den Lärm in meinem Kopf. Überall sind Tiere, Erde, Blumen. Der Wind rauscht leise durch das Blätterdach der Bäume. Ich verliere mich an diesem Ort in einer wunderbaren Weile der Beinahe-Stille. Immer wieder atme ich durch. Ich kann es hören. Mein Atmen, ich kann es hören! Kaum ist das alles für mich faßbar. Dort irgendwo ist sie wohl, jene Freiheit, die ich erflehe. Man kann ihre Nähe bereits spüren.

Endlich sauge ich wirkliche Luft in mich hinein. Sie duftet und führt ungemein viel Lebendigkeit mit sich. Nicht abgestanden ist sie und nicht mit künstlichem Mief durchsetzt. Meinen Durst habe ich mit klarem Wasser stillen können. Meine Seele decke ich mit der lauen Abendbrise behutsam zu. Der Tag floß an mir vorbei, als wäre er ein breiter Fluß. Es geschieht nun endlich, was schon lange hätte geschehen müssen. Ich lasse mich allmählich in den Abend und die Nacht hineintreiben. Das Brüllen, es scheint endlich verstummt. Alles ist angenehm. An dem Summen der Insekten erfreue ich mich, als wäre ich noch ein kleines Kind. Ist es denn eine Schande, sich wie ein kleines Kind verzaubern zu lassen? Mit großer Faszination entdecke ich die spärlichen Reste von jugendlicher Unbekümmertheit in mir. Könnte ich doch nur diesen Augenblick bewahren, ihn für die Ewigkeit konservieren. Selbst die Schwärze der Schatten um mich herum, sie berühren mein Herz. Die Finsternis der Nacht ist das passende Laken für das funkelnde Sternenmeer über meinem Kopf. Eine tiefe innere Ruhe ist nun in mir. Kein Echo hallt mehr nach. Fast schon hatte ich dieses ungemein wohlige Empfinden vergessen. Nun breitet es sich aus. Es fühlt sich gut an. Ich lechze nach ihm und nach ihr.

Eine ganz feine Stimme in der Finsternis vernehme ich plötzlich. Sanft und lieb ist ihr Klang. Es ist die Stimme einer jungen Frau. Sie ist wunderbar einfach, ganz hell und süß. Als ein leises Kunstwerk erscheint sie mir. Das ist wunderbar seltsam. Sie wirkt auf mich nahezu magisch. Meine Aufmerksamkeit, sie ist gut dosiert einfach da. Ohne jedes Gewicht scheint mein Körper zu sein.

»Du schläfst.«, flüstere ich mir selbst zu. Es läßt mich an meinem Schlaf zweifeln, daß ich mir selbst zuflüstern kann. Das ist gut so.

»Ja, du schläfst, David.«, flüstert die weibliche Stimme.

Sie ist in meinem Kopf. Es ist ein zierlicher Klang. Keinerlei Fragen stehen in meinem Traumatelier bereit. Es ist völlige Dunkelheit um mich herum. Das ist alles sehr verwirrend. Träume ich womöglich einen lichtlosen Traum? Es wäre wohl ein Traum ohne Inhalt und ohne erwähnenswerten Gegenstand. Es wäre jene Schwärze vor meinen Augen, die das Nichts definiert. Doch Schwärze ist stets mehr, als nur das Nichts. Schwärze ist Lichtlosigkeit. Sie ist eine der möglichen Antworten auf Licht. Doch es ist nicht Sein und ist nicht Welt, sondern nur ein Umstand, der uns sehenden Wesenheiten, unsere Umwelt sichtbar werden läßt.

»Es ist kein Traum. Ich bin hier. David. Ich bin für dich da.«, wisperte das flüsternde Mädchen in meinem Kopf.

Eine ungemein liebliche Stimme ist das. Ich vertraue ihr. Kein Gefühl ist in mir, das ein Erwachen provozieren könnte und meine Aufmerksamkeit bedroht. Bewegen kann ich mich nicht. Nur das Ich im Dunkeln ist jetzt erfahrbar. Es muß daher einfach ein Traum sein. Ich rede mir selbst etwas Sicherheit ein. Dann entschließe ich mich. Es ist ein spontaner Entschluß. Ich öffne meine Augen und erschrecke. Meine Augen waren tatsächlich geschlossen. Doch nach dem Öffnen der Augen, alles was bleibt, es ist nur die Finsternis.

Dann höre ich das leise Rauschen des Windes in den Bäumen. Ein kühler Luftzug streift mein Gesicht. Ich liege im Wald. Irritiert bin ich, jedoch auch erleichtert. Diese niedliche Stimme, woher kam sie nur? Eine seltsame Erfahrung war das und die Unsicherheit ist es noch immer. Ich bin irritiert. Nur ein dunkler Traum war es wohl, so rede ich es mir ein. Nur einen magischen Traum habe ich erlebt, der hier in einem dunklen Wald mündet. Das süße Flüstern jedoch, es kannte meinen Namen. Das Geschöpf meinte mich. Es widerspricht meinem ersten Entschluß, einen Traum anzunehmen. Die Ereignisse des vergangenen Tages, sie müssen wohl die Ursache dieser bizarren Irrung sein.

Ich schaue mich um. Kaum etwas ist zu erkennen. Ein finsterer Nachtwald umgibt mich. Wie von einer kühlen Hand des Waldes sanft umfaßt, so fühle ich mich. Aber dennoch spüre ich ebenfalls weiterhin diese erste Ahnung von Freiheit. Meine Augen sind müde. Meine Kleidung ist etwas klamm. Plötzlich spüre ich eine Berührung. Nein, wäre es eine tatsächliche Berührung, so wäre sie deutlich zu grob und viel zu schroff. Es ist mehr nur die vage Ahnung einer Berühung. Ein ganz zartes und ungemein dezentes Gefühl nehme ich wahr. So sehe ich mich nahe der Gewißheit, an diesem Ort nicht alleine zu sein. Als würden zwei Seelen in meiner unmittelbaren Nähe einander umspielen und sich gegenseitig necken, so erscheint es mir. Mein ganzer Körper lauscht diesem zierlichen Reiz. Manchmal entdecke ich ihn tief in meiner Brust, dann wieder weich die Haut streifen. Unglaublich selten und fragil, so scheint meine glückliche Kurzweil zu sein. Jede noch so kleinste Bewegung von mir, sie wird diesen wertvollen Augenblick mit Zerstörung bedrohen. Dort scheinen tatsächlich winzige Seelchen zu spielen. Sie tollen ausgelassen umher. Nicht mehr Luft verwirbeln sie dabei, als es der Atem eines kleinen Vogels vermag.

Sehr dunkel ist es. Man kann nichts unbestreitbar erkennen. Selbst bei Tag, da bin ich mir sicher, hätte man sie wohl kaum sehen können. Ich vermag nicht zu sagen, was oder wer sie sind. Doch sie sind da und offenbar ohne jegliche Scheu vor mir. Das ist unheimlich und schön zusammen. Kein Ton ist zu vernehmen. Ich fühle sie deutlich und intensiv. Ja, ich begehre sie sogar fast. Sie sind ein Schimmer der Hoffnung für mich. Ich begreife sie allmählich, als das irdische Ende der Silberschnur meines Seins. So tanzt es ständig in der Luft umher und berührt dabei immer wieder mein Herz. Ob diese Berührungen zufällig sind oder bewußt gesucht werden, vermag ich nicht zu sagen. Welch süßen Schmerz erfahre ich in diesen Augenblicken, der mich zu Tränen rührt. Wie gerne würde ich mich gehen lassen und mich der Offenbahrung meiner Gefühle hingeben. Doch Tränen sind heute noch immer ein Tabu. Doch zeigen sie wirklich Glück, Trauer, Schmerz und Verzweiflung? Nein, sie zeigen mir nur, daß Leben in mir steckt. Sehnsucht und Glück geben sich heute und hier die Hand.

Ich bin gefangen in der kalten Höhle meines Körpers. Er ist eine Hülle, die zu einer schweren Last geworden ist. Sehr weit schon hat sich mein Geist von ihr entfernt. Das schlagende Herz in diesem Couvert der Last, es ist der Magnet, der mich an diese Umhüllung bindet. Immer wieder und unfreiwillig treu, so habe ich meinem Körper auf seine eigenen Beine geholfen. Stets war es vergeblich. Nie blieb es folgenlos. Mein Körper konnte und kann einfach nicht mithalten. Wir sind ein schlechtes Team. Zu einer regelrechten Last ist er geworden. Dazu verdammt bin ich, sein derbes, verfallendes Antlitz und den ganzen Verlauf seiner Vergänglichkeit zu durchleben. Viele Erfahrungen sind mir durch ihn beschert, die eher einem Fluch gleichen. Mein Leben erscheint mir wie eine Mission, welche allerdings nicht meine ist. Die Frage nach dem Sinn meines Daseins, sie steht unlösbar im Raum. Irgendwo ist für alle Lebewesen Heimat. Möchte ich denn tatsächlich so sehr gerne, alles begreifen?

Ungemein verlockend ist es, dieses süße Verlangen nach der okkulten Herkunft. Unser aller Herkunft liegt im Schatten. Hier im Wald bin ich deren Schatten nahe. Ganz nahe liegt meine verborgene Heimstatt, jener Ort, an dem ich meine ganze Liebe und Hoffnung in einer kleinen Schatulle aufbewahre. Jenseits des silabaren Bandes wartet sie auf mich, als wäre sie eine alte Freundin. Zum Greifen ganz nahe, so erscheint mir meine Herzensheimat. Nur ist sie mir in Wirklichkeit so sehr fern und nicht erreichbar. Ich kann sie sanft berühren, aber nicht begreifen. Manchmal ist es der Zauber der Musik, der ihre Gegenwart offenbart. Ein anderes Mal, da sind es die wundervollen Farben eines Bildes, die mir als unverkennbare Fährte dienen. Überall kann man die Nähe meiner Heimstatt erahnen. Sie jedoch aktiv erleben, das kann man nicht. So friste ich mein Leben in einer Art Wartesaal, der von den Menschen gestaltet wurde. Er ist trist, laut und zugig. Seine Fenster sind lieblos zugemauert. Unter den vielen Wartenden herrscht ewiger Hunger, Gewalt und üble Mißgunst. Er ist ein Ort, an dem das Glück seine Farben entrissen bekommt.

Nur hier und heute bin ich endlich unter freiem Himmel. Hier sind nur die Dunkelheit, der Wald und diese seltsamen Wesenheiten. Imaginiere ich das alles nur? Nein, zu deutlich spüre ich das Andere. Ich spüre, wie es mich lebhaft umtollt und zu necken verwucht. Zu gerne würde ich sehen können. Doch das Antlitz dieser winzigen Seelchen, es bleibt mir verborgen. Das Leben bei den Menschen meiner Zeit, es hat mich erblinden lassen. Also lege ich mich zurück auf den weichen Waldboden und lasse mit mir geschehen, was eben geschehen soll. Ich gebe mich der Fremdartigkeit und dem süßen Skurrilen hin. Schon bald genieße ich diese Gesellschaft und das Gefühl von Fastglück und Beinahefreiheit. Es fällt mir seltsam und ungewohnt leicht, der Welt wieder zu vertrauen. Dieses ausgelassene Huschen und die meisterhafte Komposition der Gefühle in mir, sie sind Grund zur Freude. Nur habe ich mein Lächeln verlernt. Selbst wenn ich lächeln wollte, so fehlt mir die Kraft dazu.

Irgendwann schlafe ich ein, ohne es zu bemerken. Doch wo ist sie schon, diese scheinbar drastische Grenze zwischen Traum und dem Gefühl in mir? Sie zu erkennen, das fällt mir schwer. Ich bin zu müde, um der Suche nach ihr, meine Aufmerksamkeit zu schenken.

Autor: © Alexander Rossa 2024

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