David und die Freiheit

Sieben. Entscheidung.

Ein wenig Zeit vergeht. Die Dämmerung hat bereits eingesetzt. Ich sitze noch immer auf dem alten Baumstumpf. Mir ist inzwischen etwas kalt. Über Frank habe ich nun eine Menge nachgedacht. Eine richtige Entscheidung ist es gewesen, daß er gegangen ist und ich geblieben bin. Nun warte ich auf Erja. Auch aus diesem Grund war es wohl eine richtige Entscheidung gewesen. Es ist nicht leicht zu sagen was wohl geschehen wäre, würden sich Erja und Frank begegnet sein. Doch das Risiko, mir meine wichtige Beziehung mit den Ljósálfar zu versauen, das war mir einfach zu groß. Aber nun hat sich alles doch zum Guten gewendet. Erja wird kommen. Ich vermisse sie bereits sehr.

Mir ist ganz kalt, als ich meine Augen öffne. Ich muß tatsächlich eingeschlafen sein. Wann ich mich neben den alten Baumstumpf gelegt habe, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls ist es jetzt vollkommen dunkel im Wald. Das Wetter ist schlecht. Es regnet ein wenig. Dieses leise Rauschen vom Regen, es hat mich wohl aufgeweckt. Von den Ljósálfar oder Erja ist nichts zu sehen. Stöhnend stehe ich vorsichtig auf. Jeder Knochen und jedes Gelenk in mir scheinen zu schmerzen. Jedenfalls fühlt es sich so an. Mein Kreislauf ist zudem noch völlig im Keller.

»Guten Abend. Können Sie sich ausweisen?«, höre ich plötzlich eine Stimme hinter mir. Als ich mich umdrehe, sehe ich drei Männer. Einer der Männer schaltet seine Taschenlampe ein. Es sind drei Polizeibeamte. Nun kann ich sie deutlich erkennen.

»Nein, kann ich nicht. Ich lebe hier. Sie haben mich geweckt.«, antworte ich mürrisch.

»Das tut uns leid. Aber uns liegt eine Meldung vor, dass hier zwei verdächtige Männer herumlungern und wild campen würden. Also können Sie sich nun ausweisen, oder nicht?«

»Wie ich ihnen schon versucht habe mitzuteilen, kann ich mich nicht ausweisen. Ich gehöre nicht mehr zu ihrer Welt und habe daher auch keinen Ausweis. Mit den Menschen möchte ich nichts mehr zutun haben.«

»So, so, das ist ja interessant. Trotzdem müssen wir wissen, wer sie sind und prüfen, ob etwas gegen sie vorliegt. Bitte folgen Sie uns auf die Dienststelle. Geht das mit uns zusammen hier so klar, oder werden Sie uns Schwierigkeiten bereiten?«

»Ich habe nichts mehr mit ihrer Welt zutun. Ihre Gesetze, das System, einfach alles ist nicht Teil meiner Welt. Daher habe ich auch keinen Ausweis und ebenso kein Geld. Sie haben nicht das Recht, mich einfach mitzunehmen. Ich bin ein freier Mann.«

Zwei der Polizisten sehen sich kurz an. Einer meint dann zu mir: »Sie wissen, dass das nicht so sein kann. Sie wissen das. Wir wissen das. Also folgen sie uns bitte freiweillig, oder wir müssen sie gegen Ihren Willen mitnehmen.«

Der dritte Polizist steht bereits hinter mir. Gegen diese drei Männer habe ich kaum eine Chance. Also entschließe ich mich, doch mit ihnen zu gehen. Vielleicht lassen sie mich rasch wieder laufen, und ich kehre schon bald zurück zu dieser Lichtung. Sperren sie mich ein, werde ich wohl nicht mehr lange leben. Diese Welt der Menschen, sie ist Vergangenheit für mich geworden. Doch wenn ich mich jetzt nicht füge, dann sperren sie mich ein. Wenn ich zuviel erzähle, dann stellen sie mich mit Tabletten ruhig und schalten meinen Verstand aus. Ich muß mich also fügen, ob ich es nun möchte, oder nicht. Freiheit kennen sie nicht.

Wir gehen gemeinsam zuerst auf einen Waldweg. Sie sprechen dabei kaum mit mir. Einer flucht ein wenig. Ihm ist es zu finster. Er sehnt sich nach der warmen Wache und nach einem heißen Kaffee. Dem Weg folgen wir, bis auf einen Parkplatz. Dort steht der Polizeibus. Sie schieben mich auf eine Rückbank.

Während der Fahrt, sehe ich aus dem Fenster. Meine Stirn habe ich seitlich an die kalte Scheibe gelehnt. Einer der Beamten sitzt mir gegenüber. Er fragt mich immer wieder nach meinem Namen und meinem tatsächlichen Wohnort, also wo ich denn eigentlich gemeldet sei. Ich antworte ihm nicht, sehe einfach nur aus dem Fenster. Ich fühle mich schlecht. Heulen könnte ich. Warum lassen sie mich nicht einfach so leben, wie ich es mag? Wem schade ich denn damit, im Wald bei Erja zu sein? Es ist doch mein Leben. Die Ljósálfar haben meine Entführung aus dem Paradies sicherlich mitverfolgt. Mir geht es nicht gut. Dann fragt der Beamte mich nach meinem Alter und dem Geburtsort. Der Mann ist mir egal. Er schüttelt nur fassungslos seinen Kopf. Die Polizisten haben nichts von mir. Meine Taschen haben sie durchsucht. Ich hatte natürlich nichts bei mir. Nur ein alter, schmutziger und stinkender Mann, das bin ich. Ich bin ein Landstreicher, das werden sie wohl annehmen. Das ist verboten. Es ist verboten, sich für das wenig Freiheit zu entscheiden, die man in diesem Land eventuell noch finden kann. Wer sind sie schon, dass sie mich zu ihrer Art Leben zwingen? Machthaber, Diktatoren und Gewaltherrscher sind sie, das weiß ich nun.

Auf der Wache angekommen, verhören sie mich weiter. Einen Kaffee weise ich jedoch zurück. Das viele Licht der Stadt, ich lehne es ab. Mir brennt es in den Augen. Zudem ist überall Lärm. Nach meiner Zeit im Wald, quält es mich nun ganz besonders. Die Menschen brauchen den Lärm, um sich von der Stille abzulenken. Stille bedeutet, mit sich selbst allein zu sein. Sie erzwingt die Auseinandersetzung mit sich selbst. Ohne Licht und Lärm, da entdeckt man sich als Mensch. Diese schlichte Selbsterfahrung meiden viele Menschen. Sie erkennen dabei plötzlich eine fremde, angreifbare Kreatur, die sie selbst sind. Das alles verängstigt sie. Unsicherheit zieht bei ihnen ein.

Die Beamten fragen und fragen. Doch ich habe keine Antworten für sie. Ich fühle mich dünnhäutig und überall entzündet. Im Wald auf der Lichtung, während meiner guten Zeit dort, da habe ich vom süßen Honig gekostet. Was vorher noch etwas bitter war, das ist für mich nun ungenießbar geworden.

Nach einigen Stunden finde ich mich in einer Zelle wieder. Sie ist karg und fast vollkommen leer. Mir gefällt sie jedoch besser, als der Rest der Wache und die Stadt. Ich bin alleine. Endlich bin ich wieder alleine. Menschen sind nicht um mich herum. Keiner fragt mich mehr, oder will etwas von mir. Ich weiß noch nicht, was sie mit mir anstellen werden. Jedoch ahne ich, daß ich wohl nicht so schnell wieder in den Wald kommen werde. Einfach bei der nächsten Gelegenheit fliehen ist auch sehr schwierig und der Ausgang einer Flucht, er ist ungewiß. Sie würden mich suchen, mir nachstellen und mich rasch finden. Es ist eben ein Verbrechen, frei sein zu wollen. Du mußt ihr Leben leben, ihr Essen essen, mit ihren Scheinen und Münzen bezahlen. Vermeidest du Licht und Lärm, dann bist du absonderlich, eine Gefahr und unter dem ständigen Verdacht, mit dem Bösen einherzugehen.

Ich habe plötzlich Angst. Der Blick auf meine Zukunft wird allmählich frei. Da ist jedoch nicht viel. Was dort noch ist, es wird endgültig sein. Ich erkenne etwas, was man nicht anfassen und nicht sehen kann. Die Zukunft liegt in mir. Sie ist dabei nicht mehr, als nur eine einfache Entscheidung. Doch die Klarheit mit der ich sie plötzlich erkenne, sie erfüllt mich mit Grauen. Ich denke kurz darüber nach, warum die Polizei mich gefunden hat. War es Frank, der mich vielleicht verraten hat? Nein, glauben möchte ich das nicht. Frank hatte verstanden, worum es mir ging. Er ist ein guter Junge.

Es vergeht einige Zeit, bis sich die Tür zu meiner Zelle wieder öffnet. Man bringt mich fort. Wieder in den Polizeibus und wieder eine Fahrt durch die abscheuliche Stadt. Erneut blicke ich wortlos aus dem Fenster. Wir fahren auf das Gelände eines Krankenkauses. Offenbar wissen sie nicht, was sie sonst mit mir anstellen sollen. Sie liefern mich in der Psychiatrie ab. Da sollen die Ärzte wohl versuchen, etwas aus mir heraus zu bekommen. Man nimmt mich nett und falsch in Empfang. Aber dennoch bemerke ich, dass ich auch hier nicht einfach weggehen kann. Ich kann nicht fliehen. Doch warum muss ich überhaupt fliehen? Man möchte mich nur von der Bildfläche verschwinden lassen. Aus dem Blick, aus dem Sinn, so heißt es doch.

Man untersucht mich. Eine junge Frau sitzt mir gegenüber. Sie lächelt mich an. Es ist ein widerliches Lächeln. Ich kenne dieses aufgesetzte Lächeln bereits. Es ist das typische Joblächeln. Sie verdient ihr Geld damit, ihre Patienten anzulächeln und ihre vorgefertigten Fragen zu stellen. Eine blutjunge Frau ohne Lebenserfahrung wird über mich, den vierzig Jahre alten Mann ohne Namen, urteilen. Das baut mich just nicht wirklich auf. Ich habe dieses ganze System der Menschen einfach nur satt. Das ist kein Geheimnis. Warum werde ich hier unter Verschluß gehalten und muß mich rechtfertigen? Niemandem habe ich Schaden zugefügt. Keine Kosten habe ich verursacht. So bleibe ich bei meiner Taktik, einfach nicht mehr zu sprechen. Es gibt nichts, was ich mit den Menschen hier zu besprechen hätte. Nicht eine Unze mehr wert sind sie, als ich es bin. Sie sollen mich nur endlich freilassen.

Die Nacht ist schrecklich. Sie prüfen immer wieder, ob ich brav schlafe. Schlafe ich nicht, muß ich Tabletten nehmen, um endlich zu schlafen. Es ist entwürdigend. Ich leide mit jedem weiteren Augenblick meiner Gefangenschaft. Die Kunstblumen auf dem Tisch, die sind mir wirklich kein Trost. Das Abendessen habe ich verschmäht. Abgepacktes Essen auf Plastikgeschirr ist ekelhaft. Mir ist ohnehin schon übel. Bett, Tisch und Schrank, alles ist unpassend für mich und wirkt auch mich geradezu grotesk. Als wäre ich eine kleine Puppe in einem winzigen Puppenhaus, so fühle ich mich. Wenn nicht bald etwas geschieht, dann muß ich mich für meinen Pfad der Zukunft entscheiden.

Gegen 3 Uhr am Morgen nehme ich plötzlich den Geruch von duftenden Blumen wahr. Die Plastikblumen können es eher nicht sein. Ich hebe meinen Kopf und sehe zum Fenster. Eine helle Kugel, sie ist nur ganz winzig, tanzt vor der Scheibe auf und ab. Dann schwebt sie einfach durch das Glas hindurch und ist bei mir im Raum. Sofort kommt mir der Gedanke, das es die Ljósálfar sind. Sind sie mir zu diesem unwirtlichen Ort gefolgt? Vielleicht ist es Erja, die mich sucht. Ich hoffe es insgeheim. Dann nehme ich dieses schrille Pfeifen wahr, das ich von Erja bereits kenne. Ich konzentriere mich, wie ich es gelernt habe. Mir geht es nicht gut. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Doch allmählich erkenne ich die Stimme Erjas in dem Geräusch. Immer deutlicher verstehe ich sie.

»David, warum hast du mich verlassen? Du bist diesen seltsamen Menschen gefolgt. Ich vermisse dich.«

»Erja, du bist hier? Ich war schon ganz davon überzeugt, dich verloren zu haben. Die Menschen haben mich gefangen. Sie geben mich nicht wieder frei. Es wird mir wahrscheinlich kaum mehr möglich sein, zu unserer Lichtung zu gelangen.«

»Warum handeln die Menschen so? Sind sie so sehr voller Wut gegen dich?«

»Sie sind nicht voller Wut. Sie dulden nur keine echte Freiheit für die Menschen. Man muß sich ihren Systemen unterordnen. Folgt man dieser Regel nicht, so wird man eben dazu gezwungen. Nur wer ihnen und ihren Regeln folgt, der ist für sie ein mündiger Mensch. Sie können nicht anders.«

»Dann verlasse dieses Zimmer, dieses Haus und die Stadt doch einfach, David. Sie werden dich schon nicht gleich töten, oder?«

»Du verstehst nicht, Erja. Sie würden mich immer wieder zurückbringen. Würde ich dann mit Gewalt fliehen, täten sie mich wohl tatsächlich irgendwann verletzen, womöglich auch töten. So sind sie eben, die Menschen.«

»Sie haben sich in all den Jahrhunderten nicht verändert. Menschen lernen nicht kultiviert. Sie lernen nur sehr schwer und immer wieder nur durch wiederholtes Leid und Entbehrungen, jedoch keinesfalls durch Einsicht und Vernunft. Dich hier eingesperrt zu sehen, das erschüttert mich, mein lieber David.«

»Du kannst mir nicht helfen, Erja. Ich muß mich entscheiden. Wähle ich die Freiheit, dann werde ich sie nicht mehr als Mensch finden und leben können. Eine andere Option sehe ich leider nicht mehr für mich. Ich werde mein Dasein als Mensch aufgeben müssen. Ich bin in eine Zeit hineingeboren worden, in die ich einfach nicht gehöre. Für die Menschen bin ich nur eine Laune der Natur, eine auszuradierende Krankheit und eine subtile Bedrohung. Ohne Namen, Unterordnungswillen und Ausweis werde ich als Mensch einfach ausgewiesen. Wo soll ich denn nur hin? Habe ich kein Recht auf ein Leben in dieser Welt? Ei, Samenzelle und Nabelschnur waren doch nicht im Wesentlichen anders beschaffen als all jene, der anderen Menschen. Oder doch?«

»Mein lieber Freund, es findet sich die Anlage zum Begreifen der wahren Freiheit in jedem Menschen. Nur bei manchen Menschen, da erscheint die Blüte dieser Pflanze bereits schon im Winter. Sie ist zu dieser Zeit eine erste Ahnung, nur ein Omen, für die vielen anderen Wesen der Welt, daß ein großes Blütenmehr im Frühling naht. Jedoch im Winter, da ist die Blütezeit für diese frühen Blüten immer nur von kurzer Dauer. Kaum eine von ihnen erreicht den Frühling.«

Ich verstehe gut, was mir Erja damit zu sagen möchte. Jede Idee hat ihre Zeit. Auch wenn ich in diese Zeit gehöre, da ich in sie hinein geboren wurde, so sind meine Gedanken nur jene frühe Blüten im Winter. Ob es nur die Hoffnung Erjas ist, kann ich nicht sagen. So lange schon leben die Ljósálfar verborgen und heimlich an unserer Seite. Doch auch wenn Erjas Anwesenheit ein Trost für mich ist, so stehe ich nun vor einer persönlichen Entscheidung. Sie ist unausweichlich, und sie ist Wahrheit. Es mag sein, daß Erja eben wegen dieser Wahrheit bei mir ist. Ljósálfar sind Arbeiter im Weinberg der Wahrheit. Wahrheiten sind ihr Lebenssinn. Doch für mich ist diese Frage nur von geringer Bedeutung. Es geht für mich und mein Sein nur um diese eine einzige und entscheidende Wahrheit.

Ich entscheide mich für die Freiheit.

Autor: © Alexander Rossa 2024

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