»Die sanfte Berührung durch eine andere Welt,
sie bricht die Grenzen zum eigenen Weltbild auf
und lässt die Sonne, bis in dein Herz erstrahlen.«
Wenn ich voller Schwermut bin und auf den Augenblick konzentriert, dann fühle ich mich meinem Ich ganz nahe. In diesem Augenblick spüre ich alles das, was bis in mein Herz vordringt und entscheide.
Ich sitze hier in diesem dunklen Raum vor dem Fenster.
Es ist Abend im Dämmerlicht.
Ein furchtbarer Tag liegt hinter mir.
Brutal hat der Alltag mich verbogen und in seine kantige Form gepresst.
Jeden Tag werde ich verletzt. Unter den vielen Verletzungen leide ich.
Nur wenig sind wirklich sichtbar. Doch sie sind da.
Ich fühle mich so, als wäre ich mit Wunden übersät.
Tief in mir, wie oft auch außen am Körper, da bin ich aufgerissen und zerkratzt.
Brennenden Schmerz empfinde ich.
Ein lautes Dröhnen klingt mir in den Ohren.
Möchte ich für den Augenblick etwas Frieden finden, dann muss dieses Wundbrennen kontrollierbar werden. Heilen werden diese Wunden wohl nie, lerne ich nicht, meine Wege zu gehen. Strebe ich es an, mich für die wahre Welt um mich herum und in mir öffnen zu wollen und mich ihr vollkommen hingeben zu können, dann muss ich in der Lage sein, den Schmerz vollkommen abzuschalten. Lege ich sogar Wert darauf, in dieser wahren Welt leben und mich frei bewegen zu können, dann muss ich zuvor genesen sein.
So fein ist unsere Welt angelegt, so wunderbar und voller Leben, dass nur die feinsten Sinne sie betasten und erfassen können. Des Geistes und des Windes Wesen und liebliche Stimme kann nur vernehmen, wer das innere Auge nicht abgelenkt und das Herz weit geöffnet hat.
Jedoch der Alltag lässt uns zitternd in unseren ausgeleuchteten Stuben kauern und uns unseren Schmerz erfahren. Mit dem Leben bilden sich allmählich viele Narben und Gewohnheiten, die uns zu groben und amorphen Zombies werden lassen, Kreaturen, die sich nur an sich selbst erfreuen können. Das nennen sie dann Glück.
So sitze ich nun hier, wie ich fast jeden Abend sitze und sehne mich nach Heilung. Ich habe jene sagenhafte, wahre Welt schmecken dürfen und vermisse sie. Denn nur ein Gast bin ich in diesem abgelegenen, grauen Teil der Welt und entsetzt von dem, was sich der Mensch jeden Tag selbst und anderen Wesen zumutet.
Wie gerne würde ich Maike diese wahre Welt zeigen.
Mit ihr zusammen, diese Welt erfahren und erleben, das wäre ein Traum.
Doch der Pfad durch das Tor der Gleichmut und der Ahnungslosigkeit, er ist eng und steinig. Nicht einmal der Mut ist in mir verfügbar, sie anzusprechen und ihr meine Gefühle zu beichten.
Ich blicke aus dem Fenster.
Es ist dunkel geworden.
Die Lichter der Stadt mögen durchaus faszinierend sein, aber sie stören.
Der Lärm des Verkehrs, er regt mich auf.
So wende ich mich ab.
An den Tisch im dunklen Raum setze ich mich.
Der Tag war grob und schlecht.
In diesem Augenblick hasse ich die meisten Menschen.
Alle Helges dieser Welt hasse ich.
Ich schließe meine Augen und atme tief ein und laut aus.
War das ein lautes Seufzen?
Ja, das war es…
Das tiefe Einatmen, es verschafft mir einen kleinen Augenblick lang, das Gefühl der Beklemmung zu beherrschen. Die Luft in meinem Brustkorb drückt es in der Hintergrund.
Doch das quälende Brennen in mir, es klingt einfach nicht ab.
Kaum erträglich ist es und schafft mich.
An etwas anderes versuche ich zu denken, mich vom permanenten Schmerz abzulenken. Es ist der Versuch, ihn zu ignorieren.
Was bin ich nur für ein Tor?
Jeden Tag empfinde ich dieses Leiden.
Es erstickt meine Ausgelassenheit und verbraucht meine ganze Energie.
Soll das ein Leben sein? Fühlt sich so Freiheit an?
Ich habe doch auch ein Recht auf Leben und Freiheit.
Kann ich etwas dafür, geboren worden zu sein?
Nein, das kann ich nicht.
Das tiefe Atmen hilft. Immer wieder verschaffe ich mir damit ein wenig Frieden auf Zeit.
Ich denke an Maike.
Mein Rücken schmerzt.
Ein wenig übel ist mir, und ich bin müde.
Obwohl ich den Tränen nahe bin, denke ich an Maike.
Gerne hätte ich Sex mit ihr. Auch wenn es seltsam klingt, so sind es die schlüpfrigen Gedanken an ihren Körper, ihre seidene Scham und das gemeinsame Spielen und gegenseitige Necken, die mich von diesem quälenden Brennen in meiner Brust abzulenken vermögen. Es ist das reine Verlangen, das den Schmerz in mir betäubt.
Doch was mir von dieser Reise in die Welt der Begierden bleibt, das ist reines Verlangen. Es bleibt weiterhin die frustrierende Unfähigkeit, mich der wahren Welt und dem echten Leben öffnen zu können. Entweder ich bin damit dem Schmerz und dem Brennen, oder aber dem Verlangen ausgeliefert. Vergeht das Verlangen, dann nimmt sogleich das Reißen und Brennen in mir, seinen Platz ein. So bin ich letztlich nicht mehr, als nur ein Spielball meiner Emotionen.
Das ist ein Weg, der mich nicht weiterbringt.
Er bedroht meine Liebe für Maike und wird sie beschädigen.
Ich begehre diese Frau.
Ich kann diesem Weg nicht folgen, ohne uns beide zu verraten.
Doch die frische Liebe für das einfache und schnöde Verlangen und körperliche Begehren zu verkaufen, das reduziert die Liebe auf den Kaufpreis.
Das kann ich nicht und möchte ich nicht.
Es mag sein, dass ich diese junge Liebe in mir, in meiner Galerie der Werte, viel zu hoch aufgehängt habe. Doch sie ist meine Chance auf ein Überleben der vielen alltäglichen Tage in meinem Leben.
Diese Liebe, sie gibt mir Hoffnung.
Schäbig wäre das, sie für körperliche Gier zu verramschen.
So wehre ich mich also in den vielen dunklen Augenblicken meiner fremdbestimmten Tage, gegen die vielen unwillkürlichen Phantasien zu ihrem Körper. Doch er scheint in meinen Kopf eingebrannt zu sein. Dort hat jede noch so unbedeutende Einzelheit ihren Platz. Ihr Name, das Bild von ihr und die Gedanken an sie, alles das, es lässt mir einfach keine Ruhe und lässt mich rastlos erscheinen.
Also bleibt mir doch wohl nur, nach anderen Hilfen und Möglichkeiten zur Linderung meiner Pein zu suchen, um mein Herz und meinen Kopf frei zu bekommen.
Mein Körper, er ist entzündet und vom Alltag verwirrt. Der Geist wütet wie ein wildes Tier in mir, das in einem zu engen Käfig gefangen ist.
Ein Leben lang, suche ich eine Lösung.
Das reine Betäuben ist kein Weg.
Im richtigen Umgang mit diesem Schmerz und dem Feuer meiner Gefühle, darin liegt die Lösung verborgen.
Ein feiner und recht kühler Luftzug streicht an meiner Wange vorbei.
Sofort blicke ich auf. Sie sind da – immer sind sie da.
Das waren sie schon immer gewesen.
Sie sind jene, in der wahren Welt.
Dort und hier sind sie.
Trost spenden sie mir, da ich um sie weiß.
Plötzlich begreife ich die Tragik.
Inmitten der fast unüberschaubaren Menschenmassen und der vielen umsorgenden Gemeinschaften sämtlicher Weltreligionen, der nahezu unzähligen Sozialdienste und unterschiedlichsten Gruppierungen, da bin ich eigentlich nur eines – einsam.
Ich sitze hier mit meinem Schmerz ganz alleine und versuche mich vom Alltag zu befreien, der mir angetan wurde.
Alle Menschen suchen ihren Weg.
Viele laufen hart auf Grund, einige verlieren die Hoffnung, andere geben einfach auf und fügen sich.
Man kann sich mit der Illusion von Glück zufrieden geben und das Leben einfach geschehen lassen.
Doch was immer bleibt, das sind die Zweifel.
Auch ich wünsche mir von ganzem Herzen ein wenig mehr die Fähigkeit zur Unbeschwertheit. Sie ist bei mir nur noch eine vage Resterinnerung.
Wenn man einmal die Grenzen des Gewöhnlichen im Leben überwunden hat, dann steht man mit dieser Erfahrung alleine. Dieses Erlebnis ist dabei so sehr bedeutungsvoll und wichtig, aber auch eine entblößende Wahrheit. Mit ihr ist die Unbeschwertheit für immer dahin und man sieht plötzlich das, was wirklich ist. Ein Zurück ist nicht möglich.
Familie und Freunde wenden sich ab. Sie verstehen es nicht.
Ich muss auf die Toilette.
Eigentlich möchte ich nicht, aber es geht nicht anders.
Also stehe ich auf und begebe mich auf den Weg.
Vorsichtig taste ich mich durch den Raum. Auf Licht habe ich keine Lust.
Licht flutet meinen Kopf mit vielen, neuen Eindrücken. Das möchte ich nicht. Ablenkung ist nun nicht förderlich. Ich suche die Kraft, einen Fokus zu halten. Nur so sehe ich eine Chance, von dem brennenden Schmerz in mir fort zu kommen.
Vor dem Bad stellt sich wieder die Frage nach dem Licht.
Widerwillig schalte ich das Badezimmerlicht ein.
Es blendet.
Doch im Dunkeln zu Pinkeln, das erscheint mir seltsam zu sein.
Ich halte meinen Penis dezent mit drei Fingern, während ich es eifrig laufen lasse. Mit den Jahren ist man ein recht geschickter Pinkler geworden. Auch hier ignorieren wir einfach zu viel in unserem Leben. Es ist etwas Positives, sich gekonnt erleichtern zu können und kein lästiger Umstand. Erneut muss ich tief seufzen.
Als würde ein Block Blei schwer auf meinem Geist liegen, so fühlt sich meine Gedankenwelt an.
Wieder muss ich an Helge denken, an sein unverschämtes Grinsen und seine blöden Sprüche. Warum muss ich mich nur mit solchen blöden Typen umgeben?
Diese Leute haben sich doch dem System bereits völlig ergeben und sich damit selbst aufgegeben. Er hat noch ein Zimmer bei seiner Mutter. Sie umsorgt ihn und räumt ihm alles nach. Dabei ist er schon fast 34 Jahre alt. Für mich wäre das nichts.
Ich bin fertig, packe mein runzeliges Pimmelchen wieder ein und betätige danach die Spülung. Müde bin ich.
Der Spülkasten lärmt enorm, rauscht und klappert.
Jedenfalls kommt es mir so laut vor.
Dann wasche ich mir die Hände.
Der Wasserhahn ist wieder verkalkt.
Ich hasse es, wenn er verkalkt ist.
Nachdem ich mir die Hände abgetrocknet habe, schalte ich das Licht aus und taste mich zurück in das dunkle Wohnzimmer.
Ich nehme aus dem Augenwinkel ein Huschen wahr. Seltsam.
Vielleicht war es nur eine Einbildung.
Nur diesen Tag aus meinem Kopf bekommen, das möchte ich heute.
Das Dröhnen in meinen Ohren, es hat bereits etwas nachgelassen.
Es geht also voran in Richtung Ziel.
Ich setze mich wieder an den Tisch.
Dann seufze ich erneut laut. Das tiefe Luftholen entspannt wunderbar.
Die Bilder des Tages versuche ich aus meinem Kopf zu pressen.
Manchmal habe ich das einfach alles satt.
Mein Leben macht auf diese Weise und in dieser Art keinen Sinn.
Man rennt sich stets für andere Menschen ab und hat keine Zeit, sein eigenes Leben zu sortieren und es zu leben.
Nach Freundschaften suche ich schon lange nicht mehr.
Früher dachte ich immer es läge daran, dass ich keine Gefühle mehr zu investieren bereit bin.
Investitionen sind es wohl zumeist, die rasch mit einer Enttäuschung enden. Das ist eine klassische Eigenart von ihnen.
Aber das ist es nicht.
Nicht die Enttäuschungen sind es.
Es ist wohl eher der Umstand, dass die Menschen mich einfach überhaupt nicht mehr verstehen. Sie sehen mich an und begreifen nicht, was ich meine. Das erkenne ich immer daran, dass sie nach einer kurzen Weile mit mir, einen starren, glasigen Blick bekommen.
Ich habe im Gegenzug das Interesse an den vielen, zumeist reichlich banalen Themen der Alltagsmenschen verloren. Diese Dinge reizen mich schon seit einigen Jahren einfach nicht mehr. Für mich ist es völlig unverständlich, wie man sich immer wieder nur über das Aussehen, Autos und Sport austauschen kann. Sicher sind das die wirklich wertvollen Dinge im Leben eines Menschen…
Dennoch sind diese Themen, für mich persönlich jedenfalls, klassische Trivialitäten des Alltags. Man regt sich über Dinge auf, die vollkommen belanglos sind, wie die Trennung von irgendeinem Promi-Ehepaar oder die Geburt irgendeines Sportlerkindes. Sehe ich auf Twitter nach, dann entdecke ich bei diesen Prominenten zumeist unzählige Fans, aber die Prominenten folgen selbst niemandem zurück. Das ist doch nicht sehr reziprok. Also warum sollte ich mich für diese Leute interessieren und mich emotional an diese Prominente hängen? Reicht es denn nicht, dass ich sie mit meinem Geld finanziere? Sicher kann ich hier und da etwas Interesse heucheln.
Doch wirklich inspirierend finde ich die Themen aus dieser typischen Alltagsklasse eher nicht.
Daher sehen wohl viele in mir eine Spaßbremse und mich als schwierigen Zeitgenossen. Ja, sicher bin ich schwierig.
Ich bin sehr sensibel, kreativ und damit grundsätzlich schwierig und generell immer unbeugsam, wenn man es nicht schafft, mich zu überzeugen. Aber ich bin nie uneinsichtig, wenn man mich mit richtigen Argumenten versorgt.
Helge ist da ganz anders…
Aber ich fange schon wieder von diesem Blödmann an.
Meine Gedanken schweigen.
Fast Stille kehrt ein.
Schon kommt mir das Wohnzimmer friedlich und ruhig vor.
Nur der große Kühlschrank in der Küche, er brummt leise vor sich hin und klappert periodisch immer wieder einmal auf.
Ich konzentriere mich auf diese Stille.
Nun gut, es ist fast still.
Bei mir in der Wohnung ist völlig Stille einfach nicht möglich.
Wenn ich mich nach Ruhe sehne, ist selbst das leise Rauschen der Heizung fast ebenso störend, wie das Getöse der Niagarafälle.
Alles in mir konzentriert sich dann nur auf diese ganz feinen Geräusche. Das hat mich früher fast wahnsinnig gemacht.
Nirgendwo konnte man einen Ort finden, an dem es ruhig genug war.
Das hat mich stets aufgeregt, und dann war das Abstreifen des Alltags nicht mehr möglich. Erst nach einiger Zeit habe ich dann gelernt, dass man die Stille in den Geräuschen suchen muss, um sie zu finden.
Stille ist eigentlich überall.
Sie zu erkennen und für sich nutzbar einsetzen zu können, bedarf schon einiges an Übung und Konzentration.
Doch ich habe es schließlich geschafft.
So streife ich auch heute wieder den Alltag allmählich ab.
Ich lasse ihn fallen, wie ein schmutziges Kleid und sitze dann völlig nackt im scheinbaren Nichts.
So lasse ich meine Gefühle in die Unendlichkeit hinein blühen und meine Liebe angenehm duften.
Ich nehme mit offenem Herzen das Dazwischen wahr und bin geduldig.
Manchmal geschieht überhaupt nichts.
Oft nimmt man mich wahr, und eine andere Welt gewährt mir Einlass.
Immer wieder kommen sie.
Sie sind in meiner Alltagswelt, und die Menschen verstehen das nicht.
So sitze ich nun hier am Tisch.
Ich bin unendlich müde.
Mein Ohr juckt.
Ich fühle Angst.
Woher diese Furcht gekommen sein mag, ich weiß es nicht.
Sie ist einfach da.
Dieses Gefühl kenne ich gut.
Jeden Tag habe ich mehrfach Angst.
Eine Mischung aus Angst und Traurigkeit begleitet mich täglich.
Die Gefühle sprechen mit mir. Sie zeigen mir, dass ich noch lebendig bin.
Auch Schmerzen melden sich immer wieder.
Den perfekten Menschen ohne Leiden und Gebrechen bis in das hohe Alter, den wünschen wir uns. Die Medien pflichten uns bei. Kommt es dann doch anders, bricht für uns eine Welt zusammen.
Leben lässt sich nicht in ein allgemeingültiges Format pressen.
Man sollte möglichst rasch lernen, dass Leiden zum Leben einfach dazu gehört und auch ganz wichtig für uns ist.
Auch ist es schön, wenn wir uns langfristige Pläne skizzieren und nach dieser Skizze unser Handeln ausrichten.
Nur ist so das Leben leider nicht konzipiert.
Unsere Pläne erfüllen sich nur ganz selten.
Je mehr Variablen auf dem Weg zu unserem Ziel liegen, desto unwahrscheinlicher wird ein Erreichen. Menschen werden krank und haben Gebrechen.
Sie neigen nun einmal durch das tägliche Zusammenspiel von Umwelt und endlichem Körper dazu, viel zu erleiden und zu altern.
Das ist eben so. Noch ist es so.
Vielleicht altern und leiden Menschen irgendwann nicht mehr, eventuell nur noch ganz langsam. Mag ich mir das vorstellen?
Nein, ich würde so einen Jungbrunnen grausam finden.
Viele Dinge im Leben, sie würden ihren Reiz und ihre Wertigkeit verlieren. Der Mensch würde seine Welt nur noch mehr auslaugen.
Nicht die guten Erinnerungen sind es, die ihn froh stimmen würden.
Es sind vor allem die vielen schlimmen und schrecklichen Erlebnisse und Traumata, die seine Seele belasten würden, als wären sie aus Blei.
Immer mehr und mehr würde sie sein langes Leben verdunkeln und ihn vielleicht sogar in den Wahnsinn treiben. Würde diese Menschen nicht irgendwann verzweifelt nach Befreiung suchen?
Ganz sicher würden sie das.
Doch spricht man mit seinen Mitmenschen darüber, dann stellt man rasch fest, dass diese Sicht der Dinge nicht sonderlich populär ist.
Nun fühle ich mich besser. Ich bin ganz entspannt und leider auch ganz müde.
Sex mit Maike wäre jetzt schön. Da hätte ich jetzt wirklich Lust drauf.
Ich seufze wieder laut.
Dann versuche ich diesen Gedanken aus meinem Bewusstsein zu wischen. Manchmal gehen mir meine Hormone nahezu auf buchstäblich auf die Nerven.
Maike ist toll.
Aber jetzt bringt mir der Gedanke an sie, nicht viel.
Ich stehe auf und gehe in die Küche, um etwas zu trinken.
Irgendwie ist es schon reichlich bizarr, dass ich mich durch meine dunkle Wohnung bewege. Aber die Reduzierung von Reizen, sie tut mir gut.
Als ich den Kühlschrank öffne, blendet mich das Kühlschranklicht.
Mein Ohr juckt wieder.
Ich kratze mich.
Bestimmt gab es doch für so einen modernen Kühlschrank auch einen Produktentwickler. Dieser Mensch hätte doch wirklich daran denken können, dass diese Lichter nicht so sehr hell sein dürfen. Es gibt immerhin viele Menschen, die in der Nacht zum Kühlschrank schleichen.
Früher waren diese ganze Geräte irgendwie solider, besser und grundsätzlich durchdachter.
Bilde ich mir das nur ein?
Nein, ich sehe das so. Jeden Tag ärgere ich mich über den Schrott, den man uns heute für viel Geld andreht.
Schon denke ich wieder an meine Shorts, bei denen die Knöpfe beim Pinkeln abspringen. Ich rege mich noch nicht auf, aber eindeutig schon wieder an.
Den Eistee greife ich mir.
Ich setze an und trinke.
Es läuft kalter Eistee am Mundwinkel daneben, direkt in mein T-Shirt.
Ich stöhne beim Trinken, setze aber nicht ab.
Mir ist das heute völlig egal. Nachher muss ich mich sowieso umziehen.
Ein billiges und schäbig aussehendes T-Shirt, gegen ein anderes billiges und schäbig aussehendes T-Shirt ersetzen.
Dann stelle ich den Eistee wieder in den Kühlschrank.
Ich bekomme Kopfschmerzen.
Ob das der kalte Eistee war oder die neuerliche Aufregung über den heutigen Produktschrott, das kann ich nicht eindeutig bestimmen. Ist mir eigentlich auch egal.
Meine Nase ist kalt, bemerke ich beiläufig.
Ein seltsames Gefühl spüre ich plötzlich.
Ist es Einsamkeit?
Ich horche tief in mich hinein.
Ja, es scheint Einsamkeit zu sein.
Mir juckt der Hodensack.
Ich sortiere mit der rechten Hand meine Genitalien in der Hose zurecht.
Fühlt sich gut und angenehm an. Offenbar steht dort alles noch fein in Reihe und Glied in unterdrückter Rufbereitschaft.
Ich seufze erneut und gehe in das Wohnzimmer zurück.
Das viele Seufzen fällt mir auf und irritiert mich.
Der Boden ist kühl. Ich habe keine Socken an.
Es ist jedoch sehr angenehm, den harten Boden unter den nackten Füssen zu spüren.
Dann schalte ich das Licht ein und setze mich lässig auf das kleine Sofa. Ich möchte sehen, was im Fernseher gesendet wird.
Die Fernbedienung ist nicht da.
Das habe ich fast schon erwartet.
Sie liegt wohl noch in der Küche.
Im Fernsehen kommt wohl ohnehin nur Müll.
Ich verwerfe meinen Plan.
Fernsehen ist nicht so wichtig.
Was Maike wohl jetzt gerade macht?
Sie wird bestimmt etwas Kluges anstellen.
Immer sieht sie so adrett aus, meine Maike. Eine echte Organisatorin ist sie. Maike hat mit Sicherheit ihren Haushalt sehr souverän im Griff. Sie schleicht bestimmt nicht barfuß im Dunkeln durch die kalte Wohnung. Das ist es wohl auch, warum ich sie nicht ansprechen kann. Ich bin eben ein Freak. Sie wird bestimmt niemals etwas für mich empfinden. Wenn ich mich so ansehe, dann kann ich das sogar verstehen.
Ich bin ein Einzelgänger.
Schön bin ich nicht, bin zudem immer unzufrieden mit allem und lebe zudem im Dunkeln. Meine ständigen Gedanken an Nacktheit und Sex, meinen hässlichen Pimmel dazu und die dicken Männerfinger mit den riesigen Fingernägeln, alles das hasse ich. Selbstzweifel findet man in jeder meiner Zellen. Es nervt. Wenn ich Hunger habe und essen möchte, dann widert mich das an. Mehr ein Monster bin ich, als ein Mensch.
Meine Laune verschlechtert sich.
Dabei möchte ich doch nur entspannen.
Ohne Entspannung finde ich kaum klare Gedanken.
Selbst zur Entspannung reicht es bei mir nicht.
Eine Niete bin ich, ein Fehler der Natur.
Das Zugband der alten Gardine am Fester, es schaukelt ein wenig in der kaum wahrnehmbaren Zugluft.
Ich bin nervös und unzufrieden.
Meine Nase juckt wieder.
Die Handgelenke schmerzen nun ein wenig.
Dabei habe ich nicht einmal abgewaschen, mich nicht selbst befriedigt oder etwa die Badewanne geputzt.
Jetzt juckt mein Auge plötzlich.
Ewig ist irgend etwas. Hier juckt es, dort sticht etwas, da schmerzt es. Das kann doch nicht normal sein.
Ich stehe auf, kann einfach nicht mehr sitzen.
Aktiv muss ich sein. Vielleicht achte ich dann nicht mehr auf dieses Jucken, Stechen und Schmerzen?
Das hoffe ich sehr.
Zur Wohnungstür gehe ich.
Mein Plan ist es, durch den kleinen Türspion zu sehen.
Vielleicht ist Maike dort.
Insgeheim sehne ich mich sehr danach, sie zu sehen.
Ein Blick auf sie, er würde mir jetzt richtig gut tun.
Das würde mich auf ganz andere Gedanken bringen.
Sonst denke ich nur noch an den blöden Helge oder das Einkaufen.
Helge hat sich meine Gunst völlig verspielt.
Ich blicke durch das Loch in der Tür.
Immer wenn ich dort hindurch sehe, habe ich ein seltsames Gefühl der Bedrohung. Als ob jeden Moment etwas Spitzes durch das Glas dringen könnte, um in mein Auge zu stechen, so kommt es mir vor.
Bestimmt ist das so ein Urinstinkt von mir. Das ist wie beim Essen. Immer wenn ich mir die Gabel zum Mund führe, dann blicke ich auf, um meine Umgebung nach Fressfeinden abzusuchen. Das ist ein richtiger Reflex.
Draußen ist alles dunkel. Maike ist nicht da.
Ein Krümel Schlaf fällt mir ins Auge. Es schmerzt.
Ist sie das, die sich selbst erfüllende Erwartungshaltung?
Sicher ist es kein Nagel oder eine spitze Nadel, aber es schmerzt auch im Auge. Ich muss den Schlaf aus dem Auge reiben.
Eine Kamera für den Türspion hatte ich einmal geplant.
Aber dann fand ich diese Idee doch ein wenig sozial bedenklich.
Leichter wäre es, Maike einfach mutig zu fragen und sie zu einem feinen Kaffee einzuladen.
Doch sie ist eine Frau, eine hübsche noch dazu.
Da fragt man nicht einfach.
Solche Frauen sind gottähnliche Wesen.
Über viele Jahre hinweg war ich in der festen Überzeugung, dass Frauen keine übelriechenden Flatulenzen entwickeln können.
An einem Nachmittag im Frühling im kalten Wasser des schwach besuchten Freibades wurde diese Überzeugung jedoch akustisch und visuell sehr eindrucksvoll von der Großmutter meines Studienkollegen widerlegt.
Wenn ich also eine Abfuhr von Maike bekomme, dann lebt sie einfach in der Nachbarschaft weiter. Sie ist dann noch da und präsent. Das wäre unerträglich für mich.
Sie würde sich dann vielleicht sogar zu einer Art zweiter Helge verwandeln. Dann wäre ich völlig gefangen und umzingelt von Helges in meinem Leben.
Der Gedanke daran, er regt mich auf.
Ich gehe ins Badezimmer.
Mein Plan ist es, eine Pizza essen zu gehen.
Ich schalte das Licht ein.
Mein Oberarm juckt.
Genervt kratze ich mich.
Der Alltag hat mich wieder.
Autor: © Alexander Rossa 2024