Die Tür öffnet sich am Morgen. Ich liege auf dem Boden vor meinem Bett. Ich bin wach. Meine Augen sind geöffnet.
»Guten Morgen. Es gibt Frühstück.«
Ich reagiere nicht.
»Haben sie die ganze Nacht auf dem Boden gelegen?«
Mir ist es egal, was die Frau von mir denkt. Weiter erntet sie nur Schweigen von mir. Ich habe mich entschieden. Seit Stunden liege ich hier und trenne mich von meinem Leben. Die Vergangenheit streife ich ab. Dem Augenblick gebe ich mich hin. Was ich bisher krampfhaft festgehalten habe, das lasse ich nun los.
»Hallo? Geht es Ihnen gut?«
Die Schwester schaut nach mir. In ihrem Gesicht ist Besorgnis zu erkennen. Dann läuft sie aus dem Raum. Sie wird wohl einen Arzt holen.
Innerlich bin ich vollkommen gelöst, jedoch auch bedrohlich verletzt. Mein Körper wehrt sich gegen seine Aufgabe. Doch mein Geist und mein Wille, sie gebieten ihm Einhalt. Er ist doch nichts weiter, als nur ein Relikt der Gefangenschaft.
Zusammen mit dem Stationsarzt kommt die Schwester wieder. Er untersucht mich eilig.
»Haben Sie etwas genommen? Hallo?«, fragt er mich. Doch ich reagiere nicht. Natürlich habe ich nichts genommen.
»Er hat einen sehr niedrigen Blutdruck, und der Puls ist schwach.«, meint der Arzt.
In der offenen Tür steht plötzlich ein junger Mann. Es ist Frank. Er wirkt erschreckt. Was macht Frank hier? Hat er mich womöglich doch an die Polizei verraten. Sicher hat er es dann nur gut gemeint. Ich schließe meine Augen und konzentriere mich auf das Loslassen. Die Freiheit ist mein Ziel.
»Es wird immer dramatischer. Sein Puls stimmt einfach nicht.«, meint der Arzt und zieht eine Spritze auf.
Frank kommt ins Zimmer. Er steht nun direkt neben mir. Der Arzt gibt mir eine Spritze. Kurz darauf spüre ich, wie sie wirkt. Dann erkenne ich, dass es eigentlich so sehr einfach ist. Mein Geist ist um so vieles stärker als alles, was sie mir jemals spritzen könnten. Behutsam zwinge ich meinem Körper zum Gehorsam. Ich löse mich allmählich von ihm.
»Er rutscht mir weg. Schnell, holen sie das Team!«, faucht der Arzt die Schwester an.
Frank ist da. Ich sehe in weit aufgerissene Augen. Sie liegen feucht in einem verzerrten Gesicht. Schmerz hat seinen Ausdruck gefunden. Eine Aura der Ohnmacht und Fassungslosigkeit umgibt diesen entwaffneten Menschen. So betrachte ich ihn gebannt. Ich bin auf der Suche.
Die strahlenden Augen, wo sind sie geblieben? Sie sind nicht zu erkennen. Verzweiflung hat jeden Glanz in zahlreiche Tränen zertrümmert. Das Glück haben sie aus dem Gesicht gewaschen.
Ich spüre kaum mehr etwas. Meine Furcht ist völlig von mir gewichen. Nur noch diesen hilflosen Menschen sehe ich. Er blickt unsicher auf mich herab. Meine Hand hält er. Sie kann ich nicht spüren. Seinen Duft nur noch einmal riechen können, das wäre es jetzt. Er ist mir ein Freund.
Eisige Kälte ist noch in mir. Sie breitet sich aus. Ich sehne mich nach seiner Wärme. Mein Leben fällt von mir ab. Deutlich kann ich es spüren. Zu schwer ist die Verletzung. Was mir nun bleibt, daß ist dieser Mensch und seine Verzweiflung. Ich sehe ihn an. Entsetzen und Furcht sind enttarnt.
Von mir gewichen sind sie, nun bei ihm und in Fülle präsent. Sie sind Gefühle. Als Ausdruck des Lebens, so bietet er sie mir an. Was einst als Fluch der Sterbenden galt, das entdecke ich nun, als eine Gabe der Liebe. Im letzten Augenblick bin ich bereit für dich, mein Mensch und Hoffnungsträger.
Wie weich und warm sie doch sind, diese Tränen in deinem Gesicht. Tragen sie doch deine Zuneigung und Liebe zu mir. Du bist bei mir. Auf dem Pfad des Todes, dort folgst du mir ein kleines Stück. Unverkennbar ist die Verzweiflung und der Schmerz in deinem Ausdruck. Doch dieser Weg ist nicht für dich bestimmt.
Dieser Mut und diese Treue eines Freundes, sie berührt mich. Sie läßt mich die eisigen Schauer ertragen. Ich bin müde. Diese bleierne Müdigkeit, sie entfernt mich von dir. Kaum mehr nehme ich dich noch wahr. Die Zeit scheint nun gekommen zu sein. Wir müssen uns nun trennen. Kehre um und lebe. Ich habe dich lieben gelernt. Es ist ein Geschenk für die Ewigkeit. Verwahre es gut, mein Freund.
»Bitte gehen sie zur Seite. Wir müssen reanimieren.«
Frank wird aus dem Raum gedrängt. Er hatte von dem vermeintlich Unbekannten aus dem Wald in der Tageszeitung gelesen. Eine kleine Randnotiz war es nur gewesen. Doch Frank hatte sofort gewußt, wer hier gemeint war. So hatte er sich beeilt, sogleich in die Klinik zu fahren, um David beizustehen.
Nachdem sich die Tür zu David geschlossen hat, sieht Frank seinen Freund David niemals wieder. David hat einfach so aufgehört, zu leben. So sehr sich die Ärzte auch bemühen, sie können diesen unerklärlichen Willen der Natur einfach nicht brechen. Der unbekannte Patient, er stirbt.
David wird auf dem Armenfriedhof der Stadt beerdigt.
Der Tag ist ein wenig grau. Nur Frank erscheint bei der Beerdigung. Ihn erschüttert es sehr, daß ein so warmherziger Mensch, wie David es war, niemanden hat, der um ihn trauert. Es ist auch nur eine kleine und recht schmucklose Urne, die in den Boden gelassen wird. Ein kurzer Abschied. Nun hat David wohl endlich seine Freiheit gefunden.
Frank jedoch, er möchte ein neues Leben beginnen. Er zieht aus der Stadt weg. Diese aufrichtige Freundschaft zu David, so kurz sie auch gewesen sein mag, sie gibt Frank neuen Mut. Er möchte sich seiner Homosexualität stellen und nach einer neuen Liebe und etwas Glück im Leben zu suchen. Sollte es auch nur einen einzigen Menschen geben, für den er so viel empfinden würde, wie für diesen ungewöhnlichen Hetero David, dann hätte sich der ganze Aufwand schon gelohnt. Nur einen einzigen echten Freund zu finden, das ist jede Mühe wert.
Als die Dämmerung anbricht, läßt Frank das Grab von David hinter sich. Nur noch einiges Mal dreht er sich noch einmal zu seinem Freund um. Einen kurzen Augenblick lang meint er, eine winzige schimmernde Kugel über Davids Grab hinweghuschen zu sehen. Doch es dämmert bereits erheblich. Sicherlich haben ihm seine Augen nur einen Streich gespielt.
Autor: © Alexander Rossa 2024