Erster Sonnentag im Lebendwerd 1997…
Es ist ein wunderbarer Morgen.
Die Vögel zwitschern laut und stecken voller blühendem Leben.
Die ersten wärmenden Sonnenstrahlen dringen durch die frischen, grünen Blätterkronen der Bäume.
Morgens ist es noch ziemlich frisch in dem Wald vor der Stadt, und daher sammle ich etwas trockenes Holz für meinen alten Ofen.
Der Gedanke an einen warmen Ofen zum Frühstück ist schön. Früher habe ich mich deutlich weniger nach Wärme gesehnt. Doch mit fortschreitendem Alter hat sich das erheblich geändert. Ein schönes Frühstück im Warmen ist inzwischen zu etwas ganz Besonderem geworden.
Allerdings stimmt an diesem Morgen etwas nicht mit dem Wald. Das Zwitschern der Vögel war inzwischen sehr verhalten und immer wieder warnen nun einige Vogelhähne vor einer Gefahr für das Gelege. Etwas scheint sie zu beunruhigen. Vielleicht ist es eine der Wildkatzen, die inzwischen wieder viel öfter in diesem Teil des Waldes zu sehen sind. Ich sammle einfach weiter mein Holz, da mein ersehntes Frühstück immer deutlicher vor meinem inneren Auge erscheint.
Doch was ist das?
Plötzlich höre ich ein seltsames Geräusch im Wald, dort, direkt vor mir. Es passt nicht in diese ausgewogene und friedliche Umgebung und hört sich seltsam fremd an.
Da, ist es wieder.
Es scheint mir fast, wie ein leises Wimmern zu sein, ein seltsames Schluchzen.
Meine Neugierde ist geweckt.
Früher wäre ich sicher vorsichtiger gewesen, aber heute bin ich eine alte Frau, und alte Frauen wie ich, die sind eben manchmal deutlich mehr neugieriger, als vorsichtiger. So schreite ich unbeirrt weiter voran und sehe auch schon nach wenigen Schritten auf dem weichen Boden, was dort in dem Wald dieses seltsame Geräusch verursacht.
Es ist ein junges Mädchen, fast schon eine junge Frau, ganz in Schwarz gekleidet und auf einem vermoderten Baumstumpf kauernd.
Sie weint und ist offenbar sehr traurig.
Ich stehe da und blicke sie nur an.
Kleine Tränen laufen ihr durch das Gesicht.
Dann entdeckt sie mich und fällt vor lauter Schreck nach hinten, von dem alten Baumstumpf herunter. Sie blickt mich mit grossen Augen erschrocken an, und ich frage sie, was sie denn hier so alleine im Wald zu suchen habe. Immerhin gehören junge Mädchen am Morgen eigentlich noch in die Schule und sollten nicht alleine und heulend im Wald auf feuchten und modrigen Baumstümpfen kauern.
Sie reagiert verängstigt, steht auf und weicht vor mir zurück.
Das Mädchen wischt sich hastig die Tränen aus dem Gesicht und stolpert ein wenig unbeholfen über den unebenen Waldboden.
So erkläre ich ihr schnell, dass ich eher harmlos bin, hier im Wald in einer kleinen Hütte in der Nähe wohne und ein wunderbares Frühstück auf mich wartet. Auch sage ich ihr, dass die Menschen meinen, dass ich wohl eine Hexe wäre und begann dabei leise zu kichern.
Das Mädchen blickt mich noch immer mit großen Augen an und zeigt sich nun deutlich interessierter, als noch wenige Augenblicke zuvor.
Ich biete ihr an, sich in meiner nahen Hütte bei einem Tee oder Kaffee etwas auf zu wärmen, was wohl auf jeden Fall besser wäre, als hier im Wald alleine herum zu sitzen.
Zögernd nimmt sie mein Angebot an.
Sie scheint mich offenbar nun irgendwie sympathisch oder auch nur interessant zu finden und stellt sich mir, als Miriam vor.
Miriam ist ein sehr schöner Name für ein Mädchen. Doch was weiss ich schon.
Mir gefällt er eben nur ziemlich gut. Er klingt hübsch, verspielt und passt überhaupt nicht zu einem tränenverschmierten Gesicht.
Die traurige Miriam bietet mir an, mir beim Holztragen zu helfen, was ich dankend annehme.
Selten kommt es vor, dass man mir hilft.
Die Menschen meinen scheinbar tatsächlich, daß alte Hexen keine Rückenschmerzen bekommen können oder sie dann einfach wegzaubern könnten.
Das ist wirklich albern.
Schwachköpfe.
So viele Menschen lieben es, sich Vorurteilen hinzugeben und das eigene Denken abzuschalten. Doch obwohl es neuerdings Internet und Computer in ihren Häusern gibt, folgen die Leute heute noch immer fast jedem irrsinnigen Aberglauben und jeder obskuren Legende.
Mit der Hilfe von Miriam sind wir schon bald in meiner alten Hütte angekommen, und das Kaffeewasser brodelt schon auf dem Ofen vor sich hin.
Mir hat einer dieser modernen Städter einmal erklärt, dass man nicht »Herd« sagt, wenn man einen Ofen, wie diesen in meiner Hütte, meint.
Schade ist das.
Da will man als Hexe auch einmal modern sein und versuchen, einen dieser neuen und knackigen Begriffe zu verwenden und bekommt dann so eine schnöde Zurechtweisung.
Ob Ofen oder Herd, das Wasser kocht jedenfalls, und ich giesse den Kaffee auf.
Hexen trinken auch Kaffee. Ich jedenfalls trinke ihn, wenn auch selten, da ich Tee klar bevorzuge. Allerdings duftet Kaffee immer so schön aromatisch, was eine gewisse vorhandene Gemütlichkeit schon recht deutlich unterstreicht.
Aber heute, heute, da ich finde es heute einfach viel schöner und angebracht, wenn die traurige Miriam und ich, wir beide zusammen, das Gleiche trinken.
Das ist vielleicht auch ein Symbol für eine gleiche Basis, auf der ich uns versuche zu stellen, um mir ihre Geschichte anzuhören. Dies ist immer so ungemein spannend für mich, wenn die Leute kommen und eine solche fette und bleierne Geschichte mit sich herumtragen, mit der ihr Körper kaum fertig zu werden scheint. So eine Geschichte muss ich einfach hören. Trinken wir beide Kaffee, hat sie vielleicht weniger Furcht vor mir und erzählt mir von ihrem Kummer. An einem so lebendigen und schönen Morgen wie er sich heute über den Wald ausgebreitet hat, da ist es schon ganz übel, wenn man ihn nur durch den Schleier einer trostlosen Traurigkeit betrachten kann.
Also sitzen wir schon kurz darauf, nach dem Einschenken des warmen Getränks in meine alten Becher, gemeinsam an dem alten Holztisch am Fenster, beide mit unserem Becher Kaffee vor uns, und wir schweigen zunächst.
Miriam hat den kleinen, ganz glatten Stein entdeckt, der in einem weichen Lederbeutelchen auf dem alten Tannenholzregal neben der Tür lag.
Junge Mädchen sind neugierig, was ich durchaus angenehm finde. Später im Alter verliert sich leider diese lebendige Eigenschaft bei dem Menschen und endet dann nicht selten in eine lähmende und nichtssagende Interessenlosigkeit. Das ist eben eines der schlimmen menschlichen Übel, die ich wohl nie so richtig verstehen werde.
Miriam fand das Regal vorhin einfach faszinierend, das ich von einem alten Waldarbeiter vor vielen Jahren geschenkt bekommen hatte. Es war eine Gegenleistung für ein wenig Hilfe, als er sich mit seiner Kettensäge an der Hand verletzt hatte. Wir Hexen kennen eben diese oder jene Kräuter aus dem Wald, die ganz nützlich sein können, wenn es auch manchmal nur der Geist der Patienten ist, der nur gewitzt überzeugt werden will, seinen Körper zu heilen. Ich habe mich an den Begriff Hexe schob gewöhnt. Für euch mag das alles seltsam klingen, oder?
Miriam entdeckte in dem Regal das Beutelchen, und ehe ich mich versah, hatte sie den seltsamen, aber eigentlich sehr hübschen Stein schon in ihrer Hand.
Jetzt sitzen wir hier am Tisch, und sie betrachtet ihn ganz fasziniert, als wäre er der Mittelpunkt eines alten Zaubers, weil bei Hexen das wohl immer so sein muss. Diese Ansichten der Menschen nerven mit der Zeit schon ein wenig. Manchmal ist ein Stein, eben nur ein Stein, manchmal ist es ein Stein mit einer Geschichte, vielleicht trägt ein Stein aber auch Erinnerungen oder ist sogar ein Bindeglied zu einer anderen Welt.
Das alles mag sein. Doch zunächst einmal, da ist dieser Stein glatt und rund und wohnt in einem alten Lederbeutel.
Der Kaffee dampft und schmeckt schön aromatisch.
Miriam hat die ganze Zeit über nicht auch nur einmal gelächelt und blickt ständig zum Fenster in den Wald hinaus. Ich meine zu ihr, dass nicht das Leben an sich schlecht ist, sondern es die Menschen sind, die das Leben schlecht werden lassen und sie es sind, die ihr Leben als schlecht empfinden, nur weil es oft nicht sehr nahe an ihre Vorstellung und Pläne herankommt.
Miriam schweigt.
Das Leben an sich ist immer gleich. Es sind stets die Ziele, die wir uns selbst setzen, die oftmals einfach nicht zu dem Leben passen.
Miriam schnaubt leise in sich hinein. Sie blickt mich an und beginnt dann zu erzählen.
Ich bin überrascht. Das hat ja kaum Mühe gekostet, sie zum Erzählen zu bewegen. Bei jedem ihrer Worte spürt man eine gehörige Portion Wut mitschwingen, die jedes ihrer Wörter ein wenig beben läßt.
Miriam ist eine sehr temperamentvolle junge Lady.
Temperament ist eine gute Eigenschaft für einen Menschen, da sie ein Ausdruck der Sinnlichkeit ist.
Ich höre eine traurige Geschichte über Eltern, die ihre Tochter nicht sehen, sie nicht hören und nicht fühlen wollen. So oft schon habe ich ähnliche Geschichten gehört von Eltern, denen ihre Kinder egal sind und die nicht verstehen, dass Kinder immer ein Teil ihres Leben sein werden, egal wie sehr und verbissen man seine Kinder auch von sich weg drückt. So viele Eltern wählen den, für alle Beteiligten schwierigen Weg, auch wenn der einfache Weg ihnen zu Füssen liegt.
Dann erzählt Miriam von ihrer ersten und ganz grossen Liebe und ihrer ganz großen Enttäuschung. Sie fühlt sich ausgenutzt und abgelehnt, fühlt sich hässlich und wertlos, zumal sie wahrscheinlich auch keine Lehrstelle finden wird.
Geduldig höre ich mir ihre Geschichte an, spüre einen richtig starken Geist vor mir, und ich sehe einen ungeschliffenen Edelstein, den man achtlos weggeworfen hat.
Als Miriam ihre kleine Geschichte beendet und gegen frische Tränen in ihren Augen ankämpft, bin ich zunächst ein wenig enttäuscht.
Es ist eine der ganz typischen Geschichten junger Mädchen von heute.
Ein wenig mehr hatte ich schon erwartet.
So beginne ich ihr von einer jungen Frau zu erzählen, die gelernt hat, aus den Anfeindungen und der ewigen Achtlosigkeit ihrer Umwelt ihre Lebenskraft zu beziehen.
Das Leben an sich, es ist immer gleich, für alle Menschen ist es gleich.
Es sind immer nur die Ziele, die menschliche Gesellschaft und ihre Chancenverteilung und der gegenseitige Umgang, die das Leben zu dem formen, wie wir es für uns empfinden. Selbst der Verlauf sogenannter Schicksalsschläge wird ganz entschieden dadurch bestimmt, wie die Menschen damit umgehen und wie sie miteinander leben. Man kann durchaus lernen, aus diesen Wirren des Lebens einen persönlichen Gewinn zu ziehen, oder man muss versuchen, eine gesellschaftliche Veränderung zu bewirken.
Sich als junger Mensch jedoch in den Wald zu setzen und zu weinen, das wird nichts verändern.
Miriam wird jetzt richtig wütend und kippt trotzig ihren glücklicherweise fast leeren Becher auf dem Tisch um.
Ich lasse mich nicht beirren und erzähle weiter von dieser jungen Frau, die selbstbewusst ihren eigenen Weg gegangen ist und den Anfeindungen und Schmähungen ihrer Umwelt trotzte. Ohne auch nur ein wenig mehr tun zu müssen, veränderte sich diese junge Frau durch ihre ganz besonderen Erfahrungen, und mit der Zeit änderten sich auch die Reaktionen der Umwelt auf sie.
Wenn man eine Position zu irgendetwas im Leben bezieht, finden sich sofort immer Menschen, die für diese Position sind, aber auch Menschen, die vehement dagegen sind. Das ist immer so, und wenn man das weiss, kann man lernen, damit umzugehen. Doch man schwebt nicht mehr haltlos im Raum herum und muß sich nicht mehr von den Menschen achtlos herum schubsen lassen. Vertritt man eine Position, dann wird es immer auch Menschen geben, die mich unterstützen und mich verstehen. Habe ich keine Position eingenommen, kann mich auch keiner unterstützen. Man kann mit einer Position zu einer Sache ganz leicht abschätzen, wo man selbst steht und man sich befindet, wenn man erst einmal den Mut gefunden hat, eine klare Position zu beziehen und diese auch zu verteidigen.
Bemüht man sich zudem sogar darum, dass man jene Menschen kennenlernt und sich mit ihnen verbündet, Menschen, die meine Position unterstreichen, dann formt sich mit der Zeit eine richtige, gefestigte Allianz. Vor dem Hintergrund einer Allianz kann man dann versuchen, seinen Weg erfolgreich zu beschreiten und schafft es vielleicht sogar, die ganze Gesellschaft zu verändern. Nie wieder muss man dann alleine im Wald sitzen und weinen.
Die junge Frau, von der ich erzähle, sie hatte schnell gelernt, ihrer Überzeugung zu folgen und gestaltete ihr Leben stets selbst und liess niemals zu, dass andere Menschen ihr Leben gestalteten.
Sie lebte mit ihrer Familie ein ziemlich erfolgreiches Leben, man konnte sich sogar ein schönes Haus bauen und hatte einen gewissen Wohlstand entwickelt, den die Frau dazu nutzte, um kreativ und erschaffend zu sein. Sie begann zu malen.
Ein gewisser Wohlstand kann sehr förderlich sein, wenn es darum geht, Freiräume für Kreativität zu schaffen.
Miriam hat sich inzwischen wieder beruhigt und hört interessiert zu. Sie blickt mich an und meint, dass sie das nicht könne, da sie ein Verlierer sei.
Ich widerspreche ihr energisch und erzähle ihr weiter von der Frau, die später zu einer berühmten Malerin aufgestiegen war, obwohl sie nebenher sogar noch eine Familie zu versorgen hatte und gefordert war. Sie nahm ihre Erfahrungen aus dem Familienleben und liess diese in ihre Kreativität mit einfliessen. So entstanden authentische und sagenhafte Bilder, die von den Menschen verstanden wurden.
Miriam nickt. Sie erklärt mir, dass sie auch eine berühmte Malerin kennt.
Jetzt nicke ich.
Sie schaut mich an.
Ich erzähle ihr von der Tochter der Malerin, die heute hier ganz in der Nähe lebt.
Die Tochter der Malerin war Lehrerin geworden und arbeitete zudem für die Kirche. Sie hatte auch Erfolg, wenn auch wesentlich weniger, als ihre Mutter, was sie mit der Zeit sehr unzufrieden werden lies. Auch sie wollte kreativ sein, vergass aber diese Fähigkeit über ihren Alltag hinweg. Zwar war sie immer für andere Menschen da, wurde auch überall akzeptiert und anerkannt, aber irgendwie fehlte etwas für sie Wichtiges in ihrem Leben.
Miriam sieht mich nun mit offenem Mund an und meint, dass ihre Mutter auch Lehrerin sein und für die Kirche arbeitet.
Ich bestätige ihren Hinweis und meine, dass ich ihr Mutter gut kenne und auch tatsächlich ihre Mutter gemeint hatte.
Miriam grübelt und meint dann, dass die junge Frau aus meiner Geschichte wohl dann auch ihre Großmutter sei, die auf einem großen Anwesen in den Vereinigten Staaten lebt. Das Mädchen erkennt plötzlich, dass es nicht immer nur auf die Eltern ankommt und es nicht immer deren Kinder sind, die verantwortlich für ein unzufriedenes Leben sind.
Ich meine zu Miriam, dass sie sich in Zukunft wohl ein wenig mehr an ihrer Grossmutter und deren erfolgreichen Leben orientieren solle, als an den nicht realisierten Zielen ihrer Mutter. Miriam muss einfach lernen, ihren eigenen Weg zu gehen und nicht nur alles an Energie dazu einsetzen, um die Erwartungen ihrer Eltern erfüllen. Nicht selten kommt es dann mit ein wenig Glück dazu, dass sich beide Parteien irgendwann und irgendwo wieder treffen werden.
Miriam scheint allmählich zu verstehen, dass nicht sie selbst Schuldige an ihrem bisherigen Leben ist, sondern es wohl eher die verborgene Missgunst und Unzufriedenheit ihrer Mutter war, die ihr Leben bestimmt hat. Miriam muss einfach lernen, allmählich den Mut zu finden, ihre eigenen Positionen im Leben einzunehmen und diese zu vertreten, auch wenn es dann plötzlich eine Menge Kritiker und Gegner gegen wird. Nur wer seinen Gegner kennt und ihn rechtzeitig entlarven kann, wird ihm entsprechend gut aufgestellt begegnen können. So ist das oft im Leben der Menschen, einem Leben, das vom Menschen oft im Bewusstsein seiner Endlichkeit selbst massiv eingeengt wird.
Miriam beginnt mich nun, über ihre Grossmutter auszufragen, die sie selbst überhaupt nie wirklich kennen gelernt hat und es auch nicht durfte.
Ich kenne ihre Grossmutter aus meiner Zeit als Teenager, da ich damals schon ihre Bilder immer sehr faszinierend und schön fand. Sie hatte mir früher oft ihre Bilder erklärt, Bilder, die ich mir immer wieder lange und schweigend angesehen hatte. Es waren Bilder voller Gefühle und Geheimnisse, denen man nur auf die Spur kommen konnte, wenn man sich die Bilder mit seinem Herzen ansah.
Miriams Grossmutter trug damals ebenfalls gerne schwarze Kleidung und begann schon früh, ihre Positionen im Leben zu beziehen und diese zu verteidigen. Immerhin war es ihr eigenes Leben, um das es ging und nicht das Leben der anderen Menschen, um sie herum. Sie hatte schon in jungen Jahren verstanden, dass man sich sein Leben einfach selbst nehmen muss und nicht darauf warten darf, bis man es von anderen Menschen gereicht bekommt.
Kreative Menschen werden mit einem ihnen gereichten und vorgegebenen Leben rasch verwelken, ganz so, als wären sie selbst, eine Schnittblume auf dem Trockenen.
Miriam hat keine Angst vor mir.
Sie weint auch nicht mehr, und ein Lächeln schmeichelt ihrem hübschen Gesicht.
Das Mädchen ist der Meinung, ich sei eine gute Hexe, wobei sie findet, dass »Hexe« ein wirklich sehr negativ belegter Begriff für eine so liebe und warmherzige Frau ist.
Ich gebe mich sichtlich geschmeichelt und giesse mir noch einen Kaffee ein, während Miriam ein wenig verlegen mit ihren Fingern in ihrem Haar spielt.
Ich stehe auf und hole etwas Brot aus dem eigenem Ofen und selbstgemachten Kräuterquark herbei.
Schliesslich soll es bei meinem Frühstück nicht nur bei Kaffee bleiben.
So hatte ich es mir vorhin nicht vorgestellt.
Miriam zögert erst, greift dann aber doch zu, und es scheint ihr vorzüglich zu munden.
Dann fragt sich mich nach meinem Namen, da sie es nicht so schön findet, dass sie mich nur eine Hexe nennt. Ich erkläre ihr, das der Name viel über einen Menschen aussagt und ich mich ein wenig ziere, ihn sogleich zu nennen.
Bei den Hexen ist der Name etwas ganz Besonderes. Er verändert sich im Leben immer wieder, da auch das Leben viele Veränderungen für Menschen, wie auch für Hexen, bereit hält.
Es ist nicht immer wirklich sinnvoll, von Geburt an immer gleich zu heissen und den gleichen Namen zu tragen, nur um besser von den anderen Menschen kontrolliert werden zu können.
Eltern geben ihrem Säugling einen Namen, und nur selten passt er später wirklich zu dem Menschen, der ihn zu tragen dann verdammt ist.
Menschen und Hexen ändern sich im Leben ständig, sind heute ganz andere Menschen, als sie es vor Jahren waren. Es scheint nicht sehr sinnvoll, immer gleich zu heißen, und es wird auch nicht dem Träger des Namens gerecht.
Doch ich bin heute fair und will aufrichtig sein.
So erzähle ich Miriam, dass mein Name »Mutterhoff Dunkeltrotz« lautet und sehe sie dabei ein wenig verunsichert an. Ja, auch alte Frauen können verlegen sein, besonders wenn sie Hexen sind, die gerade ihren Namen genannt haben.
So bin ich die Hexe Mutterhoff Dunkeltrotz, eine wirkliche Hagzissa für die Menschen und die Wesenheiten der Anderswelt, eben jene Geister der Zwischenwelt, die jenseits der Grenzen des Kreises des menschlichen Bewußtseins wohnen.
Miriam lacht. Sie findet den Namen irgendwie lustig, fast schon albern.
So sind sie eben, die jungen Mädchen.
Sie lachen gerne über Dinge, die sie nicht sogleich verstehen.
Das gefällt mir besser, als diese Dinge zu zerstören und zu vernichten, so wie die älteren Menschen immer wieder gerne tun.
Sie möchte, dass ich ihr erkläre, warum ich jetzt so einen seltsamen Namen trage.
Doch ich lehne ab.
Einfachen Worten wird durch ihre ihnen zuerkannte Eigenschaft, eben ein Name zu sein, auch die Fähigkeit verliehen, eine gewisse Magie in und an sich zu tragen.
Erkläre ich die Herkunft meines Namens und seine Bedeutung, so hebt sich diese Magie wieder auf. Miriam soll sich selbst dazu Gedanken machen, warum ich diesen Namen trage und sollte möglichst kreativ dabei sein. Vielleicht wählt sie dazu auch den wunderbaren Weg, mich ein wenig besser kennen zu lernen, um so auf die Bedeutung des Namens zu kommen. Auf diese Weise nimmt die Magie meines Namen schließlich ihren natürlichen Lauf, so wie es eben sein auch soll.
Miriam murrt ein wenig, hat es aber offenbar verstanden und fragt nach einem weiteren Kaffee.
Wir unterhalten uns noch eine Weile über ihre Grossmutter, über die sie jetzt offenbar alles wissen will. Dabei habe ich sie damals auch nur ganz kurz kennengelernt.
Doch ein glückliches, junges Mädchen und ein herrlicher Morgen sind es mir wirklich wert, ihr alles zu erzählen, was ich von ihrer Grossmutter weiss.
Als Miriam schliesslich aufbricht, um wieder in die Stadt zu gehen und um vieles in ihrem Leben zu verändern, lege ich den glatten Stein wieder in sein kleines Lederbeutelchen.
Ich halte es aber noch eine kleine Weile in der Hand, weil ich mich an seine Geschichte erinnere und mir dabei ein wenig schwer um mein Herz wird.
Eine alte Hexenfrau »Mutterhoff Dunkeltrotz« sollte jetzt wirklich über einen neuen Namen nachdenken. Vielleicht wäre nach diesem wunderbaren Morgen mit der traurigen Miriam der Name »Sorgenvertreib Sonnenwald« nicht so schlecht.
Das wäre doch ein wahrhaft schöner Name für so eine alte und mit Falten überzogene Hexe, wie ich es bin.
Schon ist der Name »Mutterhoff Dunkeltrotz« nur noch die zeitlose Magie eines alten Namens im Kopf eines jungen Mädchens.
So ist das mit der Hexerei, vor der sich die Menschen immer wieder so sehr fürchten.
Sie verstehen so viele grundlegenden Dinge nur einfach nicht richtig, weil man sie in ihren Köpfen noch nicht fassen und begreifen kann, hat man sie als Hexe, ganz gemein und dreist, erst einmal dort eingepflanzt.
Doch nicht jede Pflanze ist schlecht.
Eigentlich ist überhaupt keine Pflanze in diesem Sinne schlecht, wenn man erst einmal gelernt hat, ihre gesamten Eigenschaften zu verstehen.
Das ist wie mit den Menschen.
Alles wird schliesslich gut, wenn man alles wirklich verstanden hat.
Ein unvorbereiteter und nicht trainierter Verstand kann nur wenig verstehen.
Kein Mensch kennt alle Eigenschaften einer Sache, selbst einer ganz kleinen Sache, und schon überhaupt nicht ist es ihm möglich, die Eigenschaften eines anderen Menschen im Gesamten zu kennen.
So ist das mit alten Frauen, denen man nachsagt, eine Hexe zu sein…
Autor: © Alexander Rossa 2024