Phantastik oder wahre Wunder entscheide selbst bei dem funften Kapitel vom EBook »Wundervolle Nasha«:
Nach meiner Berufsausbildung wohnte ich nicht mehr auf dem Berg bei dem merkwürdigen Wald.
Die folgenden Jahre verbrachte ich mit anderen Tätigkeiten, war für einige Zeit beim Militär und bei verschiedenen Arbeitgebern angestellt, so dass man fast meinen konnte, ich würde etwas Abstand zu diesen seltsamen Dingen bekommen haben. Doch dem war nicht so.
Über alle diese Jahre hinweg war ich mit diesem Geist jener gefühlten anderen Welt verbunden. Selbst während meiner nicht gerade leichten Ausbildung beim Militär war der Kontakt stets vorhanden. Fast schon hatte ich sogar geglaubt, an einer Art Verfolgungswahn zu leiden. Immer wieder gärte in mir der Gedanke, auf etwas gestoßen zu sein, was die Grenzen des Normalen im Leben sprengte. So war ich davon überzeugt, ich würde durch meine Verbindungen zu dieser anderen Welt an privilegierte Informationen gelangt zu sein, an die ich hätte eigentlich nicht kommen dürfen.
Meine spirituelle Welt, sie erschien mir durch diese emotionalen Erfahrungen in irgendeiner Weise mehr und mehr unwirklich, zumal mein alltägliches Leben extrem real und eindeutig gelebt werden musste. Ich hatte keine andere Wahl. Der militärische Drill, das schwere Leiden und das spätere Sterben meiner Mutter, die vielen Überstunden bei meinen zivilen Arbeitgebern später, das alles ließ mir kaum Freiraum für Übersinnliches oder das Begreifen einer inneren Veranlagung. Aber dennoch suchte und forderte es gnadenlos immer wieder seinen Platz in meinem Leben. Es kostete immer wieder ungemein viel zusätzliche Kraft, diese Veranlagung und seine Auswirkungen zu verdrängen und sie zu verleugnen.
Später heiratete ich, und es kam dann auch ganz unerwartet, dass ich für ein weiteres Jahr auf den Berg und in den Einflussbereich dieses Waldes geriet. Ich arbeitete wieder in meinem alten Ausbildungsbetrieb, und meine Frau und ich wohnten damals für einige Zeit in einer sehr einfachen Personalwohnung. Es war schon erstaunlich zu beobachten, wie meine Frau damals ebenso unter den Einfluss dieses seltsamen Ortes geriet.
Auch wenn sie damals kaum darüber sprach. So spazierte sie immer wieder mit einer Rotte Sauen umher und erzählte von einem Kauz, der täglich direkt vor ihrem Fenster verweilte und lautstark seine schaurigen Rufe im angrenzenden Wald widerhallen ließ. Auch sie wanderte bereits nach kurzer Zeit wieder und wieder in der Nacht im Wald herum, so wie ich es damals auch getan hatte. Ich selbst hatte dafür eher wenig Zeit, da ich damals eigentlich nur arbeitete und danach mit dem Auto versuchte, immer wieder das Notwendigste einzukaufen und zu erledigen. Für mich gab es damals nicht wirklich viel Freizeit. Doch habe ich deutlich mitbekommen, dass dieser seltsame Wald damit begann, auch meine Frau zu prägen.
Später wurde sie schwanger, und wir zogen in ein kleines Dorf am Fuße des Berges. Es war eine kleine, aber recht angenehme Wohnung unter dem Dach eines älteren Hauses. Sie lag direkt über einer Gastwirtschaft.
Gerade auch zum Ende der Schwangerschaft waren wir ganz in freudiger Erwartung, konnten die Geburt unseres ersten Kindes kaum abwarten.
Nur ein wenig unsicher waren wir mit dieser Situation, so wie es angehende Eltern wohl alle sind. Wir hatten alles für unser Kind gekauft. Es stand alles bereit, Möbel, Spielsachen und Kleidung. Doch es kam eine Nacht, die ich wohl niemals mehr vergessen werde. Es war eine Nacht mit einem Traum. Eigentlich war es eher nicht ein Traum, es war viel mehr eine echte Vision.
So schlief ich neben meiner Frau ruhig und friedlich.
Mit einem Mal fand ich mich in einem dunklen Raum wieder. Ich lag in einem Bett, eher auf einer Art Liege. An meiner Seite, in einigen Metern Entfernung, war die dunkelgraue Mauer mit mehreren Fenstern, die alle weit offen standen. Der Himmel draußen war dunkel. Die Luft war kühl und nass. Es war ein unschönes, ziemlich rauhes Wetter. Von draußen war ein lautes Rauschen zu hören. Man konnte fast meinen, dort schwarze Klippen zu erkennen, an deren Fuß das Meer seine Wogen rauschend und krachend brach. Es war ein eher leerer, steril wirkender Raum, in dem ich auf meiner harten Liege lag.
Plötzlich näherte sich mir etwas, und ich bekam Angst. Es war groß, und es war schwarz. Man konnte nicht hindurch sehen. Langsam schwebte es näher. Ich versuchte aufzustehen, zu fliehen. Doch mein Körper fühlte sich an, als wäre er aus Blei. Er ließ sich nicht bewegen. Nur mein Kopf war in der Lage, diesem schwarzen Ungetüm zu folgen und es zu beobachten.
So bekam ich schließlich Panik. Wie ein wildes Tier, das man in einer widerwärtigen Falle gestellt hatte, zog es mich von der Liege weg. Doch ich bewegte mich nicht einen einzigen Zentimeter von ihr fort.
Der Schatten jedoch, er näherte sich langsam, aber konsequent und zielbewusst. Es war seine Wirkung auf mich, die mich heute noch entsetzen lässt. Diese finstere Wesenheit, sie strahlte eine übernatürliche Macht und gewaltige Kraft aus, die mir spielend den Atem raubte. Sie war kalt und schien erschreckend endgültig in ihrem Vorhaben, dem ich mich einfach nicht entziehen konnte.
Ich begann zu schreien, heulte, wie ein Hund und wand mich unter meinem eigenen, bleiernen Gewicht. Doch das alles, es half nichts. So kam dieser schwarze Schatten näher und näher. Das Rauschen vor dem Fenster, es wurde stets bedrohlicher. Es klang fast so, wie eine klatschende Zuschauermenge in der Arena. Schließlich schien es mir, als würde sich dieses mächtige, finstere Wesen über mich beugen.
Es war ganz nahe, schien mich fast zu berühren.
Verzweifelt schrie ich laut auf.
Doch dann fand ich mich plötzlich sitzend in meinem Bett wieder. Ich war wach, mein Herz klopfte Sturm.
Mit weit aufgerissenen Augen hatte ich tatsächlich meine Furcht aus dem Schlaf laut heraus geschrien.
Meine hochschwangere Frau war natürlich auch sofort wach und blickt mich entsetzt an. So erzählte ich ihr von meinem Traum, während ich versuchte, mich zu beruhigen. Mir war klar, dass dieser Traum wohl mehr war, als nur ein schlechter Traum. Man spürt den Unterschied deutlich in jeder seiner Nerven.
Wir dachten also darüber nach, vorsichtshalber in der Familie herum zu telefonieren, ob nicht etwas Schreckliches geschehen war. Schließlich hörte man immer wieder von prophetischen Träumen. Wenn es solche Träume wirklich geben sollte, dann war dieser Traum mit Sicherheit einer dieser Art.
Doch es war Nacht, und da alles normal und friedlich um ich herum schien, beschloss ich dann doch nachzugeben und diese beängstigende Vision, als einen bösen Traum abzutun. Immerhin war er nicht eindeutig, schien mir verworren und eher unwirklich zu sein. Nichts wirklich Konkretes war in ihm in die Wirklichkeit zu transportieren.
So legte ich mich wieder in mein Bett und versuchte mit dem Vorsatz einzuschlafen, in naher Zukunft möglichst aufmerksam zu sein. Vor dem Fenster tuckerten die alten Lastkähne auf dem Rhein, so dass ich schnell wieder ein wenig Ruhe fand, um einzuschlafen.
Nur wenige Tage später, da setzten bei meiner Frau die Wehen ein, und wir fuhren sofort in das Krankenhaus.
Dort untersuchte man Mutter und Kind. Dann schickte man uns wieder nach Hause. Zudem hatte man uns als Erstgebärende nicht sonderlich ernst genommen und meinte, dass es normal war, dass man beim ersten Mal nervös wäre. Damals hatten wir schon alles für unser Kind und die Geburt dabei. Doch es sollte ein Fehlalarm sein, obwohl es schon die 38. Woche der Schwangerschaft war.
In der 40. Woche schließlich, da kam es meiner Frau seltsam vor, dass sich unser Kind kaum noch bewegen würde. Jedenfalls meinte sie, unser Kind kaum noch aktiv zu spüren. Erneut fuhren wir sofort wieder in das Krankenhaus. Bei der Untersuchung stellte sich heraus, dass unser kleiner Junge im Mutterleib gestorben war.
Für uns beide brach eine Welt zusammen.
Die Trauer und der Verlust waren enorm.
Es fühlte sich an, als würde man ein Stück seines Lebens mit aller Gewalt aus der Brust gerissen bekommen.
Corinna sollte das tote Kind danach auf natürlichem Weg auf die Welt bringen. Dazu lag sie dann für zwei Tage im Kreißsaal. Wir waren dort meistens ganz alleine mit unserem toten Kind.
In dem Kreißsaal direkt neben unserem, dort wurden in der Zwischenzeit immer wieder Babys geboren.
In dem Krankenhaus ging eben der Alltag weiter. Wir hörten die Schreie der Kleinen und wussten dabei nur zu gut: Unser Kind, es würde nie schreien.
Am Abend des ersten Tages stand ich zwischen der Liege, auf der meine Frau mit dem toten Kind lag und den drei Fenstern, die alle weit geöffnet waren. Es war bereits dunkel draußen geworden, und in der Ferne hörte man das Rauschen der begeisterten Zuschauer im nahen Stadion. Dort gab es an diesem Abend ein Freilichtkonzert, und die Fans schrien, klatschten und kreischten so sehr herum, dass man sie im Kreißsaal in Form von lautem Rauschen gut hören konnte.
Dann plötzlich begriff ich es.
Es war eine Liege, auf der meine Frau lag. Die Fenster waren ebenso angeordnet, wie in meinem Traum. Es war dunkel draußen, und sie waren alle weit geöffnet. Zudem war es die gleiche Anzahl an Fenstern.
Das Rauschen war zu hören, nur dass es keine Meeresbrandung war, sondern die Zuschauer beim Freilichtkonzert.
Es schien genau die gleiche Situation zu sein, fast bis in das Detail, die ich in diesem üblen Albtraum vor einigen Tagen erlebt hatte. Nur dieses schwarze Wesen von damals, es fehlte.
Vielleicht war dieser schwarze Schatten ein Art Hinweis und das Symbol für den Tod gewesen, für die Bedrohung und den schmerzlichen Verlust? Ich war entsetzt. Sollte ich wirklich den Tod unseres Kindes vorher gesehen haben? Wenn dem so war, was war ich nur für ein Versager, habe ich die Warnung nicht vernommen und nicht begriffen. Ich hatte diese Vision ignoriert, mich damit selbst verleugnet und mein Kind verraten.
Derartige Vorwürfe gesellten sich nun zu dem Schmerz über den schrecklichen Verlust. Wie ein Verräter fühlte ich mich, wie ein Tor, der nicht wahrhaben wollte, was ihm das Leben auftischte und bereitwillig zur Hilfe anbot.
Die folgenden Wochen sollten nicht minder übel werden.
Die einsame Beerdigung war schrecklich. Das Gerede im Dorf, es war nervtötend. Die Trauer schien meine Frau und mich dauerhaft zu lähmen. Wer ein eigenes Kind verloren hat, der hat mit ihm einen nicht gerade unbedeutenden Teil seiner Zukunft verloren. Ich begann aus diesem Fehler zu lernen. Nie wieder wollte ich meine Veranlagung schmälern, sie unbeachtet lassen oder sie womöglich sogar leugnen. Das schwor ich mir.
Langsam begann ich mich für diese andere, uns zumeist unbekannte Welt aufrichtig und ehrlich zu interessieren.
Dort war etwas, was mir offenbar helfen wollte und sich als wahrer Freund erwies, obwohl ich mich abgewendet und wie ein Tölpel verhalten hatte. Ebenso entfernte ich mich immer mehr von allen Einflüssen und Menschen, die mich beharrlich von meiner Veranlagung trennen wollten. Sie schnitten mich ohnehin nur von meiner Veranlagung ab, ohne die Lücke adäquat füllen zu können. Niemals hatten sie sich als Freunde erwiesen, diese Art von Menschen, welche mich nur belächelten.
Ich verstand und begriff es, mein ganzes Leben lang völlig falsch erzogen worden zu sein. Man ist, was man eben ist und zu dem man geboren wurde.
So haben sich die Herren Geistlichen in unserem Ort über unseren Verlust sogar noch lustig gemacht. Man hat dort tatsächlich Wetten um einen Kasten Bier abgeschlossen, in welchem geweihten Boden unser Kind wohl beerdigt werden würde – im katholischen oder vielleicht im evangelischen Boden.
Nein, ich begann damals jenem Weg zu folgen, der als mein Weg vorher bestimmt war und meiner Natur entsprach, auch wenn die Menschen mich durch ihn ablehnen und nicht verstehen würden. Ich hatte meinen Erstgeborenen verloren, weil ich mich von mir selbst abgewandt und mich nicht selbst ernst genommen hatte.
Diesen üblen Fehler, ihn wollte ich nicht noch ein weiteres Mal begehen. Ich hielt ab diesem Zeitpunkt die Tür zu jener anderen Welt weit geöffnet und wurde zu einem Mittler zwischen den Welten. So empfand ich diese Wendung in meinem Leben, als würde eine große Last von meinen Schultern, als auch von meinem Geist genommen werden. Es war für mich die Wahl eines ehrlicheren Weges, auch wenn er sich als schwierig und sehr steinig erweisen sollte.
Autor: © Alexander Rossa 2024